Ein Leipzig-Roman für das 21. Jahrhundert

In Maurice Guest verarbeitete die australische Autorin Henry Handel Richardson ihre Jahre als Musikstudentin in Leipzig. Der Roman ist nun erstmals in einer vollständigen deutschen Ausgabe erhältlich. Wir sprachen mit den Übersetzern Stefan Welz und Fabian Dellemann.

Henry Handel Richardson (1870-1946) gilt als eine der Begründerinnen der australischen Literatur. Ihr Debütroman aus dem Jahr 1908, Maurice Guest, ist allerdings nicht in „Down Under“, sondern im Leipzig der Jahrhundertwende angesiedelt – genauer gesagt im Studentenmilieu des renommierten Konservatoriums, an dem sie selbst studiert hatte. Vor diesem Hintergrund erzählt Richardson von der tragischen Liebe zwischen einem sentimentalen Engländer und einer eigensinnigen Australierin. 

Über 100 Jahre nach der ersten, gekürzten deutschen Ausgabe erscheint der Leipzig-Roman nun erstmals vollständig in einer Neuübersetzung. Prof. Dr. Stefan Welz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik der Universität Leipzig. Fabian Dellemann arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Lektor in Leipzig. Mit den beiden Übersetzern sprachen wir über Hürden und Herzblut eines solchen Mammutprojekts, über die Bedeutung der Stadt Leipzig für den Roman und seine Aktualität für das heutige Publikum.

MdM: Herr Professor Welz, Herr Dellemann, zwei Bände umfasst diese Neuübersetzung, mehr als 800 Seiten. Wie lange hatten Sie dieses zeitintensive Projekt schon im Hinterkopf? Wie sind Sie auf den Roman gestoßen?

STEFAN WELZ: Da überlagern sich zwei Dinge. Die eine Aktivität lag bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Person von Peter Hinke, der diesen Roman in der alten deutschen Übersetzung gelesen hatte und sehr angetan war davon. Schon in den 1990er Jahren konnte er sich vorstellen, eine Neuausgabe von Maurice Guest zu machen, um diesen Roman mit dem lokalen Bezug den Leipziger Lesern wieder zugänglich zu machen. Ich selbst hatte als Doktorand in den 90er Jahren gehört, dass es einen australischen Leipzig-Roman gibt; das war für mich spannend. Ich kannte damals Henry Handel Richardson nicht, wusste nicht, dass sich hinter dem Namen eine Frau verbirgt. Nach der Jahrtausendwende stieß ich in Wuppertal auf eine historisch-kritische australische Ausgabe von Maurice Guest, in der australische Literaturwissenschaftler den gesamten Text akribisch neu aufgearbeitet und kommentiert haben. So wurde mir bewusst: Es steckt viel mehr dahinter, als die gekürzte deutsche Übersetzung von 1912 hergibt. Mit Peter Hinke verbanden mich gemeinsame literarische Intentionen und es lief immer mehr darauf hinaus, eine Neuübersetzung zu wagen. Ich bin kein professioneller Übersetzer – und als das Projekt konkreter wurde, war klar, dass ich das nicht alleine schaffe. Da kam dann Fabian Dellemann ins Spiel…

FABIAN DELLEMANN: Ich habe mit Stefan zusammen, als ich noch Hilfskraft an der Universität war, an einem Konferenz-Band gearbeitet, in dem es auch um englischsprachige Kultur in Leipzig ging, mit einem Artikel Stefans zu Maurice Guest. Er hat mir dann von der Idee erzählt und hatte schon einige Seiten übersetzt. Ich hatte meinen Abschluss gemacht mit Übersetzungen von Gedichten und bin aus dieser Warte in das Projekt hineingekommen mit dem Ziel, literarisch zu übersetzen. Mit der gemeinsamen Arbeit hatten wir um 2012 herum angefangen. Über die Jahre haben wir sporadisch, mal mehr, mal weniger intensiv an der Übersetzung gearbeitet – meinerseits ohne Gedanken daran, dass wir damit tatsächlich irgendwann fertig werden könnten. (lacht) Für mich war das eine Herzenssache.

STEFAN WELZ: Am Anfang war es vor allem Liebhaberei, dann wurde es mit der Zeit immer ernster. 2013 veranstalteten wir an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig einen Henry-Handel-Richardson-Abend, um Leute darauf aufmerksam zu machen. Sie hatte ja in Leipzig Klavier und Komposition studiert und es gibt auch Musik von ihr. Einiges davon wurde an diesem Abend gespielt und Auszüge der ersten Kapitel, die wir schon übersetzt hatten, vorgelesen. So kam man in diese Spur hinein, dass andere sich dafür interessieren. Ein oder zwei Jahre später nahm ich Kontakt zur Henry Handel Richardson Society in Australien auf. Richardson gilt als „Mutter der australischen Literatur“, und diese Society interessierte sich sehr dafür, dass hier in Leipzig dieser Roman wieder bekannt wird. 2019 bin ich dann nach Australien gegangen und habe vor Ort mehr über ihre biografischen Hintergründe erfahren. In diesen Momenten konnte man sich motivieren, wenn es schwierig wurde: 860 Seiten zu übersetzen, ist schon eine große Herausforderung.

Richardson kam als „Quereinsteigerin“ über den Umweg der Musik zur Schriftstellerei. Sind ihre Schilderungen des Leipzigs der Jahrhundertwende singulär in der englischsprachigen Literatur der Zeit? Oder hatte Leipzig auch für andere nichtdeutsche Schriftsteller eine Art Strahlkraft? Oder wenn nicht Leipzig, dann andere mitteldeutsche Städte wie Weimar oder Dresden?

STEFAN WELZ: Zum Stichwort Strahlkraft muss man sagen: Es war die Musik, die strahlte und insbesondere das Königliche Konservatorium. In dessen Umfeld sind viele englischsprachige Studierende nach Leipzig gekommen. Das hat auch mit der Person Felix Mendelssohn-Bartholdys zu tun, der das Konservatorium in den 1840er Jahren gegründet hatte. Er war sehr anglophil und wird in England bis heute hoch verehrt. Die Strahlkraft seiner Person und des Konservatoriums hat viele nach Leipzig gelockt. Engländer sind auch nach Dresden gegangen, der Malerei wegen. Schriftsteller hat es nicht so viele hierhergezogen. Das hatte auch politische Gründe: Um die Jahrhundertwende waren die Beziehungen angespannt. Viele namhafte englische Schriftsteller konnten kein Deutsch, da war also auch eine Sprachbarriere. Insofern ist es bei Henry Handel Richardson besonders interessant, dass sie nach Leipzig kommt und über Leipzig schreibt. 

Welches Bild von Leipzig entspinnt sich in dem Roman? Ist die Stadt prägend für Maurice Guest oder könnte die Geschichte auch anderswo spielen?

STEFAN WELZ: Der Leipzig-Bezug ist sehr klar erkennbar. Henry Handel Richardson greift in ihrem Roman-Erstling stark auf eigene biografische Erfahrungen zurück, auf ihre Zeit in Leipzig – da war sie 19 bzw. 20 Jahre alt. Sie hat bis 1907 daran geschrieben, also im Rückblick ihre Eindrücke als junge Studentin verarbeitet. Es ist spürbar, dass sie dieses „Leipzig-Kolorit“ sehr bewusst eingebracht hat. Mehrere Passagen zeigen das – besonders verweise ich auf ein von ihr beschriebenes studentisches Trinkgelage am Brühl. Ich glaube nicht, dass dieser Roman auch woanders hätte spielen können. 
In Briefen an ihren französischen Übersetzer schrieb sie auch, in Leipzig habe sie die stärksten Eindrücke empfangen. Auch in später entstandenen biografischen Fragmenten blickt sie noch einmal auf die Zeit in Leipzig zurück. Dort wird deutlich, dass „ihr“ Leipzig, das Maurice Guest-Leipzig, natürlich noch das des 19. Jahrhunderts war, in dem es noch etwas gemütlicher zuging und die Industrialisierung noch nicht so durchgeschlagen hatte. 

„Es ist spürbar, dass sie dieses ‚Leipzig-Kolorit‘ sehr bewusst eingebracht hat.“

Die Übersetzer Fabian Dellemann (links) und 
Stefan Welz (rechts) mit Verleger Peter Hinke (Mitte).

(Foto: Connewitzer Verlagsbuchhandlung)

Der Roman behandelt die schwierige Liebe zwischen einem Engländer und einer Australierin. Inwiefern ist hier die Beziehung zwischen England und Australien – vielleicht sogar die Abnabelung des „modernen“ Australien vom „Mutterland“ – verarbeitet? Wie sehr spürt man die australische Perspektive der Autorin?

STEFAN WELZ: Relativ wenig. Henry Handel Richardson platziert zwar hier und da ein paar „Spitzen“ – etwa in der Form, wie der Engländer Maurice sich abarbeitet an dieser freizügigen Australierin Louise Dufrayer. Das sind implizite Momente, aber nichts Ideologisches. Man muss dazu sehen: Im 19. Jahrhundert ist dieses „Down Under“ noch sehr weit weg, als äußerster Außenposten des britischen Empires. Insofern spielten Selbstbestimmungsaspekte noch keine allzu große Rolle.

FABIAN DELLEMANN: Von den anderen internationalen Studierenden wird Maurice manchmal an den Kopf geworfen, er sei ja „so ein Engländer“ – ohne dass aber explizit klar erwähnt wird, was damit genau gemeint ist.

STEFAN WELZ: Markanter als die Abgrenzung zum Mutterland sehe ich in dem Roman die Öffnung für andere Kulturen, was für den englischen Roman dieser Zeit untypisch war. Richardson kommt nach Europa, liest deutsche Literaten, übersetzt skandinavische Literatur… solche Erfahrungen haben auf sie gewirkt und eine ganz andere Färbung in ihr Schreiben gebracht, als es für die Romanautoren Englands dieser Zeit üblich war. Diese vielfältigen Einflüsse, auch die europäischen, sind nun wiederum durchaus typisch für Australien: eine offene Kultur, in der viele Strömungen Eingang finden. Australiens Gesellschaft definiert sich bis heute so; das findet sich auch in der Schriftstellerei. Richardson ist ein gutes und zudem ein sehr frühes Beispiel dafür.

Was war für Sie der Ansporn für eine Neuübersetzung? Welche Schwächen, Ungenauigkeiten oder Fehlstellen der ersten deutschen Übersetzung von 1912 konnten nun behoben werden?

FABIAN DELLEMANN: Zum einen waren da natürlich die umfangreichen Kürzungen durch den Londoner Verlag Heinemann, die in der deutschen Ausgabe von 1912 übernommen wurden. Die damalige Übersetzung ins Deutsche besorgte Otto Neustätter, der Schwager von Henry Handel Richardson, der von Beruf Augenarzt war, in Rücksprache mit der Autorin und ihrem Mann George Robertson. Seine Übersetzung wirkt sehr förmlich, was auch der damaligen Zeit geschuldet ist – die Beziehungen der Personen erscheinen im deutschen Text recht steif, auch wenn sie ins Private oder Intime hineingehen. Das wollten wir etwas auflockern, ebenso wie die Sprache selbst, die mitunter etwas holpert. Richardson selbst wird mit den Worten zitiert, dass sie die Übersetzung „hölzern“ fand – hierzu muss man natürlich bedenken, dass sie zwar des Deutschen mächtig, aber keine Muttersprachlerin war. Außerdem waren einige Passagen in Neustätters Übersetzung vereinfacht und geglättet; andere Stellen wurden nur verkürzt wiedergegeben, womöglich wegen seiner Schwierigkeiten bei deren Entschlüsselung und Übersetzung. Wir haben seine Erstübersetzung immer mal konsultiert. Dabei ist uns aufgefallen, dass zahlreiche Auslassungen in Neustätters Übersetzung in Richardsons Originaltext durchaus bedeutungstragend sind.

Würden Sie als Übersetzer sagen, dass der Roman eine bestimmte Herausforderung hat? Übersetzt sich Maurice Guest schwieriger ins Deutsche als ein anderer Roman aus der Zeit?

FABIAN DELLEMANN: Was kompliziert war, sind die psychologischen Auslotungen, die Richardson stellenweise vornimmt: dass sie Gefühle bis ins Kleinste analysiert – und das recht adjektivreich und mit vielen Synonymen. Da kommt man im Deutschen mitunter in Bedrängnis, ein Adäquat zu finden.

STEFAN WELZ: Man sollte auch erwähnen, warum der Londoner Verleger Heinemann Passagen herausgekürzt hat. Das lag natürlich einerseits an der Länge des Romans – aber es gab andererseits auch einiges, was für die damalige Zeit problematisch war: Suizidsequenzen; auch sexuelle Momente, natürlich mehr darauf angespielt als direkt ausgedrückt, aber doch für die Zeit schon recht aufschlussreich. Wie schon erwähnt war die Autorin auch nicht ganz zufrieden mit der Übersetzung. Es hatte wohl auch damit zu tun: Der S. Fischer Verlag, bei dem 1912 die deutsche Fassung erschien, war ein sehr renommierter Berliner Verlag und drauf bedacht, ein breites Spektrum europäischer Literatur herauszugeben. Dieser englischsprachige Roman passte gut ins Programm und sollte zügig erscheinen. Auch Richardson hatte großes Interesse daran, dass endlich auch die deutsche Übersetzung erscheint und ich denke, es gab da Druck auf den Übersetzer Otto Neustätter, dass er die deutsche Fassung schnell fertigbekommt.

Nun haben wir diesen Roman in einer neuen Übersetzung des 21. Jahrhunderts vorliegen. Was macht den Roman für heutige Leser*innen interessant und relevant?

STEFAN WELZ: Das ist natürlich subjektiv. Für mich ist die historische Dimension – sowohl was Musik anbelangt, als auch diese regionalgeschichtliche Seite – sehr faszinierend. Ich finde das kosmopolitische Panorama aufschlussreich, das Richardson aufzeigt. Ich bin von Hause aus Anglist und darum interessieren mich diese Austauschmöglichkeiten zwischen Engländern, Amerikanern, Australiern und Deutschen, die in dem Roman behandelt werden. Darüber hinaus ist auch diese psychologische „Tiefenbohrung“ spannend, was diese Liebesbeziehung anbelangt. Durch die Gesamtkomposition – die regionalhistorische, die musikalische und die psychologische Dimension – ist der Roman so eindrucksvoll. Ich denke, Maurice Guest hat wirklich seinen Platz in dieser Zeit.

FABIAN DELLEMANN: Meine Vermutung war, dass der Roman vor allem bei gutsituierten Bildungsbürgern mittleren Alters ankommen wird, die sich dieses Buch dann teils aus Pflichtschuldigkeit kaufen. Ich war dann überrascht, begeisterte Stimmen von jüngeren Personen zu hören. Das liegt vielleicht auch an dieser, wenn man es so nennen möchte, Liebesgeschichte; dieser Obsession, dieser Abhängigkeit und gleichzeitigen Befreiung – ohne zu sagen, dass diese junge Frau, in die sich Maurice verliebt, wirklich emanzipiert wäre. Das ist sie meiner Meinung nach eben nicht: Sie lebt in ständiger Abhängigkeit, ist aber schon sehr eigenwillig, wie sie ihr Leben gestaltet. Sie ist eine zwiespältige und damit für heutige Leserinnen und Leser auch interessante Figur. Der Engländer Maurice hingegen ist ein Anhänger des romantisch-sentimentalen Ideals von einer Frau, dem Louise absolut nicht entspricht. Das ist auch der Konfliktpunkt in ihrer Beziehung: dass sie völlig unterschiedliche Lebensentwürfe haben und vollkommen verschiedene Vorstellungen davon haben, was es heißt, mit jemandem in einer Beziehung zu sein. Und dieser Clash ist auch heute, noch oder wieder, aktuell.
 

Die Fragen stellten David Leuenberger und Frank Kaltofen (Redaktion Mitteldeutsches Magazin).

Band 1 und 2 der Neuübersetzung von "Maurice Guest"

Die Neuübersetzung ist in Leipzig bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erschienen: 

Henry Handel Richardson: Maurice Guest
Roman in zwei Bänden
860 Seiten
Preis: 50 Euro

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