Laut einer Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit verzeichnet Sachsen zum wiederholten Mal so viele Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten wie kein anderes Bundesland.
von Frank Kaltofen
Das in Leipzig ansässige Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (European Centre for Press and Media Freedom, ECPMF) zieht in der Studie »Feindbild Journalist« Bilanz zu den Übergriffen auf Medienschaffende im Jahr 2021. Dabei zeigt sich: Der Negativrekord des Jahres 2020 wurde übertroffen; die Zahl der Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten in Deutschland ist weiter gestiegen, auf 83 dokumentierte Fälle im vergangenen Jahr – also 14 mehr als im bisherigen Rekordjahr 2020.
Von der Gewalt betroffen waren der Studie zufolge 124 Medienschaffende, darunter auch Teams, wobei die Forscherinnen und Forscher des ECPMF von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Regional betrachtet ist Sachsen mit 23 Fällen das meistbetroffene Bundesland, wie in nahezu allen Jahren seit Beginn der Erfassung im Jahr 2015. Damit nimmt der Freistaat nicht nur in der Region Mitteldeutschland, sondern bundesweit eine Sonderrolle ein. Aber auch in westdeutschen Ländern nehmen die Übergriffe zu: „Die beobachtete Ausbreitung pressefeindlicher Tätlichkeiten nach Westdeutschland spricht dafür, dass der Hass auf die Presse sich als Normalzustand bei einer Minderheit etabliert“, heißt es in der Studie.
Im Interview erläutert Roberta Knoll, Co-Autorin der Studie »Feindbild Journalist«, die Erhebung der Fallzahlen und inwieweit Sachsen als Protest-Hochburg eine Sonderstellung bei den Angriffen auf Medienschaffende zukommt:
MdM: Mehr als 80 tätliche Angriffe hat das ECPMF im Jahresverlauf 2021 registriert. Aber wie hoch schätzen Sie in etwa die Dunkelziffer von Übergriffen auf Medienschaffende?
KNOLL: Das lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Klar ist, dass es Medienschaffende gibt, die sehr offen mit Angriffen auf sich umgehen und sie teilweise, beispielsweise auf Twitter, öffentlich machen; andere entscheiden sich aus verschiedenen Gründen gegen diese Öffentlichkeit. Manche vermeiden eine Meldung, weil das eine erneute Auseinandersetzung mit teils sehr unangenehmen Situationen bedeuten kann, weswegen hier auch wieder eine Verzerrung stattfinden kann. Weitere Gründe können der Wunsch nach Anonymität und das Vorbeugen von Folgeanfeindungen sein. Auch spielen Sicherheitsaspekte eine Rolle, wenn Anzeige bei der Polizei erstattet wird und dabei private Daten wie die Adresse angegeben werden müssen. Die Betroffenen fungieren in solchen Situationen also meist selbst als „Gate-Keeper“ und entscheiden, ob ein Angriff öffentlich wird und damit in der Erfassung landet.
Sachsen ist mit 23 Fällen erneut trauriger „Spitzenreiter“ des letzten Jahres, mit insgesamt über 90 gemeldeten Fällen seit 2015 sowieso. Damit verzeichnet der Freistaat mehr Übergriffe als alle anderen ostdeutschen Länder – Berlin ausgenommen – zusammengerechnet. Wie erklären Sie sich das?
Das kann verschiedene Gründe haben, die wir in der Studie kritisch reflektieren müssen. Zum einen rückt Sachsen immer wieder überproportional in den Fokus der Berichterstattung. Mit dem Entstehen von Pegida in Sachsen und dem daraus resultierenden ansteigenden Protestgeschehen war hier das mediale Interesse seit 2015 sehr groß. Viele Medienschaffende kamen hierher und berichteten von den Versammlungen, während aus anderen Bundesländern sehr viel weniger berichtet wurde. Das bringt einerseits gesteigerte Konfrontationsmöglichkeiten zwischen Medien und Teilnehmenden in Sachsen mit sich, andererseits werden diese Situationen dann möglicherweise häufiger publik. Das konnten wir nun auch wieder im Zuge der pandemiebezogenen Spontan-Proteste beobachten, die auch viel in Sachsen stattfanden. Nichtsdestotrotz mussten wir für das Jahr 2021 eine Verlagerung der Angriffe auch in westdeutsche Bundesländer beobachten, was ein Anlass zur Sorge ist. Die Pressefeindlichkeit verbreitet sich also auch da, wo Proteste stattfinden, wodurch es potenziell zu Konfrontationen kommen kann.
Gesamtdarstellung aller erfassten Übergriffe in den Jahren 2015 bis 2021: „Gesteigerte Konfrontationsmöglichkeiten zwischen Medien und Protest-Teilnehmenden in Sachsen“
(Grafik: ECPMF)
Etwas provokanter gefragt: Hat nicht „der Osten“ ein Problem, sondern Sachsen?
Für Thüringen wurden drei Angriffe gemeldet, für Mecklenburg-Vorpommern einer. Für Brandenburg als auch für Sachsen-Anhalt wurden im Jahr 2021 jedoch keine Fälle verifiziert. Im Gegensatz dazu steht Sachsen als Negativ-Spitzenreiter mit 23 Fällen. Hier wird also ein deutlicher Unterschied sichtbar, der wiederum verschiedene Ursachen haben kann. Einer der maßgeblichsten Gründe: In Sachsen finden sehr viele Demonstrationen statt, mit relativ vielen Teilnehmern. Den verschiedenen Akteuren gelingt es, viele Menschen zu den Protesten zu mobilisieren. Zum Teil ist dies auch auf etablierte rechtsextreme Strukturen zurückzuführen, die sich nun beispielsweise bei den „Freien Sachsen“ bündeln. Zum anderen spielen die bereits genannten Verzerrungen der Medienberichterstattung eine Rolle: Vermutlich passieren hier in Sachsen also mehr Angriffe, werden aber gleichzeitig auch häufiger publik. Die Lage für Medienschaffende vor Ort ist angesichts der Angriffszahlen in jedem Fall als bedrohlich einzuschätzen.
Spielt die Verortung Ihres Zentrums in Leipzig eventuell auch eine Rolle für die Melde-Wahrscheinlichkeit der einzelnen Fälle?
Der Sitz des ECPMF in Leipzig und der damit einhergehende Bekanntheitsgrad des Zentrums in Sachsen könnte natürlich eine Rolle spielen. Für die Fallrecherche für die Studie hat dieser Effekt aber einen untergeordneten Einfluss, da wir mit einer geografisch umfassenden Recherche versuchen, bundesweit Fälle zu erfassen. Das geschieht neben der direkten Kontaktaufnahme zu und von betroffenen Journalist:innen auch durch eine ausgedehnte Suche auf Social Media-Plattformen, in Berichten überregionaler Medien oder in parlamentarischen Dokumenten sowie durch Anfragen an Medienhäuser deutschlandweit. Außerdem konnten wir durch die Kooperation mit dem Bundesverband der Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) auch Regionalzeitungen in die Fall-Erfassung miteinbeziehen, wodurch nochmals Fälle bekannt geworden sind und ein Licht auf dieses oft unterrepräsentierte Feld geworfen werden konnte.
Zum Tag der Pressefreiheit wird von politischen Akteuren immer gern der hohe Wert von freiem Journalismus betont. Was müsste angesichts Ihrer Studie getan werden, um Medienschaffende zu schützen – oder um bestenfalls das Klima, aus dem diese Angriffe hervorgehen, gar nicht erst entstehen zu lassen?
Um zu vermeiden, dass sich Medienschaffende aus bestimmten Arbeitsfeldern oder gar komplett aus dem Beruf zurückziehen, muss sich die Bedrohungslage und die damit einhergehenden Belastungen verbessern. Die Neufassung der 1993 formulierten Grundsätze zur Zusammenarbeit zwischen Presse und Polizei müssen von der Innenministerkonferenz so bald wie möglich beschlossen werden. In den Polizeibehörden sollte weiterhin auf thematische Weiterbildungen gesetzt werden und dabei vor allem ein Dialog mit Beteiligten beider Seiten aufgebaut werden, um das gegenseitige Verständnis für die jeweilige Arbeit zu stärken. Weitere Maßnahmen müssen auch in den Pressehäusern und Verbänden ansetzen. Der Schutzkodex, eine Initiative von Verbänden aus dem Jahr 2021, verpflichtet die unterzeichnenden Medienhäuser beispielsweise, psychologische Unterstützung für Journalistinnen und Journalisten in Belastungssituationen bereitzustellen.
Grundlegend muss es aber natürlich auch innerhalb der Gesellschaft ein Verständnis für die Rolle und Wichtigkeit der Pressefreiheit für die Demokratie geben. Hier sind Bildung und Aufklärung ein Schlüssel. Das allein reicht jedoch nicht – die Pressefreiheit muss auch aktiv von der Breite der Gesellschaft geschützt werden. Denn davon hängt in hohem Maße unser aller Informationssicherheit ab.
Vielen Dank für diese Einschätzungen, Frau Knoll.
Das ECPMF ist eine Non-Profit-Organisation mit Sitz in Leipzig, die sich europaweit für die Pressefreiheit einsetzt. Es veröffentlicht die Studie in Kooperation mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDVZ) im Rahmen des Media Freedom Rapid Response. Vom Januar 2015 bis zum 1. März 2022 hat das ECPMF bundesweit insgesamt bereits 287 Tätlichkeiten gegen Medienschaffende verifiziert. Als Tätlichkeiten gewertet werden dabei etwa Schläge, Tritte, Stoßen und Spucken sowie Angriffe mit Waffen.
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