Die schwierige Erinnerung an einen afrikanischen Gelehrten in Mitteldeutschland 

Anton Wilhelm Amo war im 18. Jahrhundert einer der ersten promovierten Wissenschaftler afrikanischer Herkunft. Seine bewegte Geschichte im mitteldeutschen Raum gibt bis heute Anlass, über den Umgang mit Fremdheit im akademischen Feld nachzudenken. Kulminationspunkt ist die Auseinandersetzung um das richtige Denkmal für Amo an der Martin-Luther-Universität.

von Dr. Stefan Knauß


(Foto: Dr. Stefan Knauß)

Anton Wilhelm Amo wurde um 1700 im heutigen Ghana nahe der Hafenstadt Axim geboren. Das Gebiet am Ufer des Golfes von Guinea war damals unter niederländischer Kontrolle. Wie genau Amo nach Mitteldeutschland gelangte, ist unklar. Höchstwahrscheinlich wurde er in seinem Geburtsland versklavt und über Amsterdam nach Europa verkauft. Als gesichert gilt, dass Amo 1707 an den Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel gelangte – als persönliches „Geschenk“ für den Herzog. Gemäß den Aufzeichnungen wurde am 29. Juli 1707 „ein kleiner Mohr“ in der dortigen Kapelle getauft. Sein Name selbst verweist auf seinen herzöglichen Ziehvater, Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, und einen seiner Söhne, Wilhelm. „Amo“ ist vermutlich sein ursprünglicher Name.

Ob er am Hof in Wolfenbüttel, wie damals üblich, als sogenannter „Hofmohr“ gelebt hat, ist umstritten. Jedenfalls erhielt er eine mehrsprachige Ausbildung und studierte ab 1727 in Halle an der Saale an der dortigen Universität Jura und Philosophie. Mit der lateinisch verfassten, heute leider verschollenen Disputation De iure Maurorum in Europa (1729) (dt. Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa) begann seine akademische Karriere, die er zwischen 1730 und 1734 in Wittenberg mit der Promotion De humanae mentis apathia (dt. Die Empfindungslosigkeit der menschlichen Seele) fortsetzte. Seine umfangreichste Arbeit Tractatus de arte sobrie et accurate philosophandi (dt. Traktat über die Kunst nüchtern und sorgfältig zu philosophieren) legte er 1738 wiederum in Halle vor. 

Jena wurde von 1739 bis 1746 zum letzten Wohn- und Arbeitsort in Deutschland, bevor er wahrscheinlich Anfang 1747 über die Niederlande mit einem Schiff der niederländischen Westindien-Kompanie an die „Goldküste“ zurückkehrte. Warum Amo das heutige Mitteldeutschland verließ, ist ungeklärt. Geldsorgen nach dem Tod seines Mentors, dem Herzog von Braunschweig, und rassistische Anfeindungen, wie in einem mutmaßlich auf ihn abzielenden Spottgedicht, sind aber die wahrscheinlichsten Motive.

Was bedeutet Amo heute für Mitteldeutschland?

Die Beschäftigung mit Anton Wilhelm Amo erschöpft sich weder in der nüchternen historischen Rekonstruktion seines Lebenswegs, noch in der streng philosophischen Exegese seiner Werke. Amo ist zu einem Prüfstein für unseren wertenden Umgang mit Geschichte geworden. Im Mittelpunkt steht dabei oft die Frage seiner, aus heutiger Sicht, rassialisierten Identität. In Anlehnung an den englischen Begriff race lässt sich eine solche Identität weder realistisch als naturwissenschaftlich begründbare Eigenschaft, noch rein fiktiv als ein beliebig eingebildetes Merkmal von Menschen bestimmen. Sozial-konstruktivistisch verstanden werden rassialisierte Identitäten von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen erzeugt und aufrechterhalten, bestimmen also unsere individuellen Lebensentwürfe und sozialen Verhältnisse in erheblichem Maße mit.

Schon zu Lebzeiten ergaben sich für Amo aufgrund seiner Herkunft und Hautfarbe spezifische Vor- und Nachteile auf seinem Lebens- und Karriereweg: Während die koloniale Verschleppung und Verschenkung zu den herabwürdigendsten Praktiken überhaupt zählten, wurde seine Ausbildung und Förderung bis hin zur Doktorwürde immer wieder genutzt, um die Fortschrittlichkeit und den Universalismus der Aufklärung im absolutistischen Preußen zu betonen.

In Wittenberg erinnert man an Amo als eine bekannte Persönlichkeit der Universitäts- und Stadtgeschichte: So hat der örtliche Rotary-Club eine Tafel für Anton Wilhelm Amo im Innenhof der heutigen Stiftung LEUCOREA angebracht. Schon im Jahr 1978 hatte man ihm eine Sonderausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums gewidmet. Laut des Historikers Daniel Watermann lässt sich das hohe Ansehen, das Amo in Wittenberg genoss, an einer Episode aus dem Jahr 1733 veranschaulichen: „Die Universität mit ihrem Lehrkörper und den Studenten huldigte ihrem neuen Landesherrn, Friedrich August II. (1696–1763). Eine Ehrenformation zog vom Fridericianum zum Markt und zum Schloss. Angeführt wurde sie von Amo.“ 

Auch für die Universität Halle-Wittenberg ist die Erinnerung an Anton Wilhelm Amo wichtig: Neben Dorothea von Erxleben, die als erste deutsche Ärztin auf Anweisung Friedrichs des Großen 1741 in Halle promovieren durfte, stellen Amos Disputation 1729 und die Dissertation 1734 in Wittenberg außerordentliche Zeugnisse des Studiums und der Graduierung von marginalisierten Menschen dar. 

Durchaus in diesem Geiste verleiht die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg seit 1994 jährlich den Anton-Wilhelm-Amo-Preis für herausragende Studienabschlussarbeiten. Die Wahl Amos als Namensgeber solle dabei betonen, „dass die Martin-Luther-Universität offen steht für alle Menschen, unabhängig von Religion und Kultur, Hautfarbe und Herkunft“, heißt es auf der Webseite der Universität. 

Dennoch ist Halles Prorektor für Forschung, Wolfgang Paul, heute der Meinung, wir würden der Person Amo und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sowohl historisch als auch aktuell in unserer Art der Würdigung noch nicht gerecht. So berät eine Arbeitsgruppe, die 2020 in eine Kommission des Rektorats umgewandelt wurde, über den angemessenen Umgang mit dem afrodeutschen Akademiker. 

Interkulturalität bedeutet, einen Mittelweg zwischen der Leugnung der faktischen Bedeutung von Kulturen und einem unversöhnlichen Kulturrelativismus zu sehen.

Umstritten ist dabei insbesondere die oben abgebildete Bronzeplastik Freies Afrika (1965) von Gerhard Geyer (1907-1989), die den antikolonialen Weg Ghanas würdigen soll. Sie wurde 1975 um eine Gedenktafel für Anton Wilhelm Amo ergänzt. Der Historiker Daniel Watermann sieht die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Leben und Wirken Amos in den 1960er und 1970er Jahren mit einer „spezifischen erinnerungspolitischen Aneignung Amos in der DDR-Zeit“ verbunden. 

Wohl auch aus diesem Grund soll eine neue Gedenkplatte auf ein Problembewusstsein der Universität aufmerksam machen: „Diese Verbindung der Plastik mit der Person Amo ist jedoch aus heutiger Hinsicht problematisch. Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die Stadt Halle (Saale) und das Anton Wilhelm Amo Bündnis Halle (Saale) arbeiten daher an einem neuen Erinnerungskonzept an Amo“, heißt es auf einer Gedenkplatte, die Rektor Tietje und der Vorsitzende der Rektoratskommission, Prorektor Wolfgang Paul, im Dezember 2021 eingeweiht haben (Bank-Zillmann 2021).

Die Gruppe „Halle postkolonial“ hatte laut Wolfgang Paul bereits 2019 darauf hingewiesen, dass es sich bei der Kombination der Gedenkplatte mit der Statue möglicherweise selbst um eine Art der kolonialen Vereinnahmung Amos handele. Von Amo existieren nach gegenwärtigem Kenntnisstand weder Bilder, noch steht seine Person in einem unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang zur Emanzipation afrikanischer Staaten im 20. Jahrhundert. Für das Aktionsbündnis Anton Wilhelm Amo ist das Denkmal am Universitätsplatz daher eine „rassistische stereotype Statue eines Weißen Künstlers“, die unkommentiert den „rassistische[n] Normalzustand von Wissenschaft und Institutionen“ fortsetze und selbst ein Fall „rassistische[r] Symbolik“ sei, wie es in einem Facebook-Posting des Aktionsbündnisses vom Mai 2019 hieß. 

Eine differenzierte Erinnerung an Amo könne hingegen zeigen, dass Amo wenig mit der abgebildeten Person gemein habe: „Er war von seiner ganzen Entwicklung, von seiner kulturellen Sozialisation, ein europäischer Akademiker. Und dann wird er in Beziehung gesetzt zu einem in Stammeskleidung dargestellten Paar aus Afrika. Das ist einfach ein Missverhältnis. Beide Kunstwerke für sich sind positiv und gut, die Nähe zueinander schafft Verbindungen, die so nicht richtig sind“, so Prorektor Wolfgang Paul gegenüber dem Onlinemagazin Campus Halensis.

Auf den Spuren von Anton Wilhelm Amo: Plädoyer für ein interkulturelles Verständnis

Wir tun gut daran, die Auseinandersetzung mit Amo weiter voranzutreiben. Seine Strahlkraft reicht schon jetzt weit über Mitteldeutschland hinaus: Er wird zum Teil in den Rang einer Symbolfigur für die gesellschaftliche Aufarbeitung des (deutschen) Kolonialismus und Rassismus erhoben, wie die Umbenennung der Berliner Mohrenstraße in „Anton-Wilhelm-Amo-Straße“ zeigt. 

Amo gilt manchen als „erster schwarzer Philosoph Deutschlands“, „Vordenker für die Rechte der Schwarzen, die Befreiungsbewegungen, die Abschaffung der Sklaverei“, ja gar als „Lichtgestalt“ und „Revolutionär“. Die Verkürzung von Leben und Werk Anton Wilhelm Amos auf griffige Labels läuft selbst Gefahr einer Instrumentalisierung seiner Person. Sie kann der Komplexität und Vielschichtigkeit seines Schaffens nur als Annäherung dienen. Amo ist kein gewöhnlicher (deutscher) Philosoph. Sein Lebensweg vom Sklaven zum Gelehrten sowie seine philosophischen und juristischen Arbeiten sind untrennbar mit der europäischen Kolonialpolitik und den zeitgenössischen Formen des Rassismus verbunden, auch wenn sie selbstverständlich nicht darin aufgehen.

In dem von mir und meinen Mitherausgebern editierten Band Auf den Spuren von Anton Wilhelm Amo. Philosophie und der Ruf nach Interkulturalität (2021) erweitern wir die Beiträge zu Amo daher systematisch um Texte zur interkulturellen Philosophie. Philosophie mit interkultureller Einstellung zu betreiben bedeutet für uns, den Blick auf die Chancen und Herausforderungen zu lenken, die mit Fremdheit verbunden sind. Die Erfahrung von Fremdheit ist ein irreduzibles Element kulturell geprägter Sinn- und Handlungszusammenhänge. Ähnlich wie bei der bereits angesprochenen 
rassialisierten Identität ist es zweitrangig, ob es sich um „wesenhafte“ oder „bloß vorgestellte“ Fremdheit handelt. Interkulturalität bedeutet, einen Mittelweg zwischen der Leugnung der faktischen Bedeutung von Kulturen und einem unversöhnlichen Kulturrelativismus zu sehen. Bei aller Verschiedenheit der Kulturen besteht stets die Möglichkeit des Austausches. 

Das ist unmittelbar für das Andenken an Amo relevant: Auf der einen Seite steht der Anspruch, dem Denken möglichst unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht gerecht zu werden. Auf der anderen Seite scheint es allerdings doch notwendig, die mit jenen kontingenten, aber dennoch prägenden Merkmalen verbundenen Eigenheiten des Denkens und Fühlens sowie die damit verknüpften Nachteile und Privilegien zur Sprache zu bringen.

Für Prorektor Wolfgang Paul bedeutet das: „Wir wollen ein würdiges Denkmal für Amo“. In den Worten einer afrika-stämmigen Journalistin sei die jetzige Plakette lediglich „ein kleines Denkmal für eine große Person“. Die Rektoratskommission plant daher neben dem Finden einer Finanzierung für eine Skulptur auch eine inhaltliche Aus-einandersetzung mit Philosophen und Künstlern. Bereits jetzt sei man damit Teil einer internationalen Diskussion. So berichtet Paul aus einem Radiointerview mit der Deutschen Welle, dass Amo in Afrika durchaus von jungen Menschen als wichtige Symbolfigur für einen Dialog auf Augenhöhe betrachtet wird. 

Historiker Daniel Watermann lobt die Arbeit der Rektoratskommission der Martin-Luther-Universität und schlägt eine Ausdehnung auf Wittenberg vor: „Im Zuge dieses nur zu unterstützenden Anliegens wäre es aus meiner Sicht sehr wünschenswert, dass Amos Wirken in Wittenberg und Halle gleichberechtigt gewürdigt wird. Schließlich hatte er eine besondere Bedeutung für beide Universitätsstandorte der heutigen Martin-Luther-Universität.“

Der Autor

Dr. Stefan Knauß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Nachhaltige Landschaftsentwicklung am Institut für Geowissenschaften und Geographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er studierte Politikwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft und Philosophie in Halle (Saale), Catania und Parma und promovierte 2015 mit der Arbeit „Von der Conquista zur Responsibility while Protecting – Die Debatte der humanitär gerechtfertigten Kriegsführung aus lateinamerikanischer Perspektive“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Umweltpolitik, Rechtsphilosophie (Rechte der Natur, Menschenrechte und Humanitäre Interventionen) sowie Interkulturelle Philosophie und Dekoloniales Denken (insbesondere Lateinamerika).

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