Burkhard Götze ist Dirigent und Arrangeur und leitet das von ihm ins Leben gerufene Metropolis Orchester Berlin. Im Interview erläutert er die Besonderheit von Stummfilm-Musik und ihren Reiz für Orchester-Dirigenten.
(Foto: Richard Siedhoff)
MdM: Was macht den Reiz aus, Musik zu einem Stummfilm zu dirigieren? Der Fokus liegt ja mehr auf der Leinwand, als auf dem Orchester?
GÖTZE: Mehr noch als beim Tonfilm ist die Musik bei einem Stummfilm ein tragendes Element. Das wird deutlich, wenn Sie sich beispielsweise einmal einen Chaplin wirklich stumm anschauen. Da werden Sie merken, dass der Genuss, selbst der ausgefallenen Gags, nicht so stark sein kann, weil etwas ganz Entscheidendes fehlt – die Musik. Der Reiz, solch eine Stummfilmmusik zu dirigieren, liegt vor allem darin, dass man durch die Musik in den Film quasi eintauchen kann, den Schauspielern so folgen kann und muss, wie in der Oper den Sängern. Mit der Musik kann man die Dramatik des Films ins unermessliche steigern, unterschwellige Handlungsebenen betonen und vor allem dem Film sein Tempo geben. Dafür braucht man eine Musik, die dem Film guttut, ihn versteht und wenn man die hat, dann macht es unglaublich Spaß.
Was sind die Herausforderungen eines Stummfilmdirigenten?
Mehr als bei allen anderen Bereichen der klassischen Musik ist für einen Stummfilmdirigenten ein höchst präzises Tempoempfinden erforderlich, denn die genaue Synchronisation mit dem Film ist jedes Mal eine Herausforderung. Jede Ungenauigkeit kann bei einem Film mit rascher Schnittfolge böse Folgen haben: Ist man beispielsweise noch mit der Musik zur Liebesszene beschäftigt, während bereits die Verfolgungsjagd in vollem Gange ist, wird auch dem unmusikalischsten Zuschauer auffallen, dass etwas nicht stimmt.
Wenn man allerdings nur Synchronität hinbekommt, reicht das auch nicht aus. Wie jeder andere Dirigent sollte man in der Lage sein, seine Interpretation der Musik auf die Musiker zu übertragen. Wenn Präzision und Leidenschaft zusammenkommen, dann wird eine Stummfilmaufführung ein unvergleichliches Erlebnis für das Publikum. Eine Vertrautheit mit den verschiedenen musikalischen Stilen, auch weit über klassische Musik hinaus, wäre für einen Stummfilmdirigenten auch, sowie die Fähigkeit, Musik zu arrangieren und zu bearbeiten, um sie für die praktische Anwendung als Stummfilmbegleitung benutzen zu können.
Wie schaffen Sie es, mit dem Film synchron zu bleiben? Wie spontan müssen die Musiker sein?
Wie eben schon gesagt, ist die Synchronisation womöglich die größte Herausforderung bei der Stummfilmbegleitung. Das setzt zunächst voraus, dass man den Film sehr gut kennt, um auf jedes Geschehen reagieren zu können. Theoretisch hat man heute sogar die Möglichkeit mit technischen Hilfsmitteln zu arbeiten und einige Dirigenten tun das auch, doch bei einer Live-Aufführung geht damit eben jene Spontanität und das „den Film dirigieren“ gänzlich verloren. Deshalb sollte man meiner Meinung nach ohne diese Hilfsmittel arbeiten, soweit es sich vermeiden lässt. In jeder Stummfilmpartitur gibt es dafür zahlreiche Synchronangaben, die die Handlung genau beschreiben. Es ist schon eine ziemliche Konzentrationsleistung, solch einen Film zu dirigieren, denn man muss ständig den Film, die Noten und die Musiker im Blick haben, Einsätze geben, Tempowechsel deutlich anzeigen und vorbereiten, oft Filmereignisse, sei es ein Kuss, ein Autounfall, ein Sprung ins Wasser oder eine Explosion, punktgenau zusammenbringen, was immer besonderen Spaß macht – wenn’s gelingt.
Auch die Musiker haben keinen leichten Job, denn sie können sich nicht so sehr entfalten, wie sie es gewohnt sind, müssen sehr eng am Schlag des Dirigenten spielen, sehr spontan reagieren können auf Tempowechsel und mit plötzlich wechselnden musikalischen Stilen zurechtkommen. Wenn sie dann trotzdem ein sehr schön gestaltetes Solo, das unter die Haut geht, hervorbringen, muss man das noch mehr zu schätzen wissen als sonst. Glücklicherweise gibt es diese Musiker immer mehr.
In der Stummfilmzeit gab es die Diskussion, ob Filmmusik illustrativ oder kontrapunktisch arbeiten sollte. Wie sehen Sie das heute und welche Rolle spielen moderne Musikströmungen wie zeitgenössische Musik oder gar Rock- und Popmusik?
Ich glaube, diese Diskussion hat nicht aufgehört, und sie schließt auch moderne Filmmusik mit ein, die ja auch sehr variabel mit den Musikstilen umgeht. Stummfilme findet man heute in allen nur denkbaren Musikrichtungen: von der klassischen Stummfilmimprovisation an Piano oder Orgel, Originalkompositionen für Orchester oder Ensemble, über Jazz, freie Improvisation, zeitgenössische Avantgarde, Weltmusik, Popmusik oder Electronic etc. Das hat natürlich alles seine Berechtigung und trägt auch dazu bei, Liebhaber all dieser Musikrichtungen mit Stummfilm in Berührung zu bringen.
Ich persönlich bevorzuge die Komponisten, die sich atmosphärisch und stilistisch jener Zeit nähern, in der diese Filme entstanden sind und völlig vom Film her denken. Meist sind diese Komponisten gleichzeitig große Filmkenner und Stummfilmexperten und interessieren sich für weit mehr als nur für die Musik. Bei vielen zeitgenössischen Kompositionen hingegen habe ich oft den Eindruck, dass sie am Film und den Handlungsebenen ziemlich vorbei geschrieben wurden und eher eine eigene Atmosphäre erschaffen, als die Atmosphäre des Films erlebbar zu machen. Ganz problematisch finde ich es allerdings, wenn Stummfilme wirklich für Klangexperimente „benutzt“ werden und sich das Verhältnis völlig umdreht – die Musik den Film übertönt und er zu einer Art optisches Beiwerk verkümmert. Ich bin der Ansicht, dass gute Filmmusik immer dem Film dienen muss, ihn besser verständlich machen und die Gefühlsebene des Films verstärken sollte.
Ist heute noch so etwas wie eine „historische Aufführungspraxis“ möglich?
Das möchte ich unbedingt mit Ja beantworten, denn das versuche ich, seit ich mich mit Stummfilmmusik beschäftige. 2017 gründete ich mit dem Metropolis Orchester Berlin ein Ensemble, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die historische Aufführungspraxis von Kinomusik neu zu entdecken. Kinomusik ist der Begriff jener ganz eigenen Musikgattung, die sich mit dem Stummfilm in nur 30 Jahren entwickelte und dann, als der Tonfilm kam, wie über Nacht verschwand. Kinomusik bedeutet auch nicht ausschließlich nur Stummfilmmusik, sondern auch die Gestaltung von Vorprogrammen, mit Wochenschauen und Cartoons, aber auch mit Beiträgen aus Kabarett, Theater, Unterhaltungsmusik, Gesang und Tanz. Mit dem Metropolis Orchester stehen wir im regen Austausch mit Historikern, Filmwissenschaftlern, aber auch richtigen Enthusiasten der Stummfilmära wie Bohème Sauvage in Berlin. Mit Richard Siedhoff haben wir das Glück, einen Composer in Residence zu haben, der ein Garant für hochqualitative Stummfilmmusik ist, die sich den überlieferten Originalmusiken jener Zeit stilistisch ganz bewusst annähert. Immer wieder arbeiten wir auch mit Sängern, Chansonniers, Tänzern oder auch Conférenciers zusammen und lassen uns für das Publikum neue Sachen für unterhaltsame Vorprogramme einfallen. Denn Kino war in erster Linie schon immer vor allem Unterhaltung, auch wenn man sich wünscht, dass Stummfilm und Kinomusik auch von kulturwissenschaftlicher Seite viel mehr als eigenständige Kunstform anerkannt würden.
Welche Stummfilme schreien förmlich nach einer musikalischen Wiederentdeckung? Gibt es neue Funde oder Schätze, die noch irgendwo schlummern?
Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt wurden in den letzten Jahren tatsächlich einige Schätze von Originalmusiken geborgen, die fast hundert Jahre unbemerkt in Archiven oder Sammlungen vor sich hin schlummerten. Man muss hier wirklich von Schätzen sprechen, denn diese Originalkompositionen waren eine absolute Seltenheit und Prozentual im Vergleich zur Gesamtfilmproduktion wohl kaum abbildbar. Umso trauriger ist es, dass unter diesen wenigen Werken etliche auch noch immer verschollen sind. 2018 beispielsweise konnte Richard Siedhoff die großartige Originalmusik zu Paul Wegeners berühmtem Golem-Film von 1920 wiederentdecken und rekonstruieren, die vom weitgehend unbekannten Filmkomponisten Hans Landsberger stammt. Das Werk konnte ich mit dem Filmorchester Babelsberg einspielen und in der Kammerorchesterfassung mit der Staatskapelle Weimar im vergangenen Jahr aufführen. Dann tauchte 2019 im Zuge der Filmrestaurierung von Lupu Picks Sylvester die Originalmusik von Klaus Pringsheim in Kanada wieder auf und wurde bereits von Frank Strobel und dem MDR-Sinfonieorchester eingespielt. Und ich selbst hatte das Glück, dass mir Ende letzten Jahres der Klavierauszug zu Ernst Lubitschs Sumurun mit der Originalmusik von Victor Hollaender in die Hände fiel. Ich orchestriere sie gerade neu und hoffe, sie bald der Öffentlichkeit vorstellen zu können.
Man könnte also momentan von einer Art Goldgräberstimmung sprechen, zu entdecken sind Werke von Komponisten wie Friedrich Hollaender, Ernst Riege, Wilhelm Löwitt, Edmund Meisel, dem erwähnten Hans Landsberger. Und das sind nur Komponisten aus Deutschland. Interessant wäre auch, in den Filmnationen Italien, Frankreich, USA, England, Russland und auch in Osteuropa nach verschollenen Originalmusiken zu Stummfilmen zu suchen. Da wartet bestimmt noch einiges auf seine Entdeckung.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
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