Der Gang ins Kino. 
Von der Musikalität früher Filme

Vor 100 Jahren feierte der Stummfilm Der Gang in die Nacht Premiere. Der Weimarer Stummfilm-Pianist Richard Siedhoff hat 2016 eine Orchestermusik für den Film komponiert. Ein Blick auf einen Klassiker des frühen Kinos. 

von Richard Siedhoff

Das Kino vor 100 Jahren steckte schon lange nicht mehr in den Kinderschuhen. Und obwohl es noch fast ein Jahrzehnt ohne hörbare Sprache auskommen musste und eine realistische Farbwiedergabe noch viel länger auf sich warten ließ, hatte es eine Qualität erreicht, die es einerseits zum Unterhaltungsmedium Nummer eins für die Massen werden ließ und andererseits zahlreiche Künstler, Intellektuelle und Handwerker – Schauspieler, Regisseure, Maler, Ausstatter, Fotografen, Autoren und Musiker – für sich vereinnahmte.

Das Kino nach dem Ersten Weltkrieg trieb allerorts zahllose Blüten, von denen die meisten heute vergessen, verloren oder übersehen sind. In Deutschland waren einige der produktivsten erfolgreichsten Regisseure um 1920 z.B. Richard Oswald, Ernst Lubitsch, Joe May, Rudolf Biebrach, Otto Rippert, E. A. Dupont, dann Paul Wegener für seine märchenhaften Filme und der auf Serienfilme und Detektivspektakel spezialisierte Max Obal. Einen Namen machte sich auch mehr und mehr Fritz Lang, der 1921 mit Der müde Tod seinen Durchbruch hatte und dem Ansehen des deutschen Films im Ausland zu Aufschwung verhalf.

Ein Anderer war Friedrich Wilhelm Murnau, dessen Weltkarriere noch vor ihm lag. Heute zählt er zu den wichtigsten Regisseuren des „Weimarer Kinos“. Sein Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (1922) lehrte Generationen von Kinogängern das Fürchten, sein Phantom (1922) übertrug die Hauptmann’sche Romanvorlage in einen intimen wie sensationellen Bilderreigen, sein Der letzte Mann (1924) revolutionierte das Kino in der Beweglichkeit der Kamera und brauchte keine Zwischentitel mehr, sein Faust. Eine deutsche Volkssage (1926) setzte tricktechnische Maßstäbe und mit seiner US-amerikanischen Produktion Sunrise erlangte er 1927 gar die höchste aller Ehrungen: den Oscar für den besten Film.

Heute verwundert es, dass die ersten sechs Filme des Regisseurs verschollen sind. Dies verdeutlicht jedoch nur, dass „Film“ anfangs nicht für die Ewigkeit gemacht wurde. Die Industrie dahinter wollte immer neuen Stoff, daher wurden die Kopien abgespielter Filme wieder eingeschmolzen – Materialgewinnung für neue Kopien. An Filmarchive war noch nicht zu denken. Etwa 95 Prozent der gesamten Stummfilmproduktion gilt heute als verschollen. Somit ist es eher ein Glück, dass wir heutzutage so viele der frühen Meisterwerke überhaupt sehen können. Darunter nun auch ein weiteres Kleinod, die siebte Regiearbeit Murnaus und sein frühester erhaltener Film: Der Gang in die Nacht (1921).

Die 2015/16 restaurierte Filmfassung des Filmmuseums München zeigt einen erstaunlich souveränen Murnau-Film. Kein Meisterwerk wie seine späteren Filme, aber doch unter Berücksichtigung seiner Zeit ein Werk aus Meisterhand. Euphorische Kritiken der Zeitgenossen rühmten das dezent und wenig effekthaschend inszenierte und eindrucksvoll gespielte Kammerspiel. Das Drehbuch von Carl Mayer trägt in seinen fünf Akten Züge antiker Dramen, verlagert den Kontrast zwischen Stadt und Land in das bürgerliche Milieu eines Arztes. Willy Haas, einer der wichtigsten Filmkritiker seiner Zeit, zeigte sich begeistert: „Das Manuskript hat Carl Mayer verfaßt – ein Dichterwerk; nichts weniger. Die Technik des Filmes gehorcht ihm auf den Druck einer Fingerspitze. Unglaublich, wie er über Passagen wegeilt, drängend, atemlos, mit zwei Andeutungen. Wundervoll, wie er anderswo wieder zu verweilen weiß, unbesorgt, fast hartnäckig, etwa wenn die Lichter von Autos über den verregneten Asphalt einer dunklen Großstadt gleiten, oder wenn das Meer wühlt, oder wenn blaß die Sonne sich auftut“, so der Filmkritiker und Filmautor in einer zeitgenössischen Besprechung.

Grund genug für mich, für diesen Film eine Kammer-Orchestermusik zu schreiben, die 2017 vom Metropolis Orchester Berlin unter der Leitung von Burkhard Götze aufgezeichnet wurde und in gleicher Konstellation am 1. Dezember 2018 ihre Uraufführung im Zeughauskino Berlin fand. Prozentual gesehen war nur sehr wenigen Filmen während der Stummfilmzeit eine eigens komponierte Musik vergönnt. Normalerweise kompilierten die Kapellmeister der Kinos eine passende 

„Illustration“ aus einem nach Filmsituationen geordneten Musikkatalog, bestehend zumeist aus Versatzstücken des klassisch-romantischen Konzertrepertoires, zeitgenössischen Schlagern und Salonmusiken. Eifrige Kinokapellmeister wie Giuseppe Becce nahmen sich jedoch besonders wichtiger Filme im Auftrag der Produzenten oder nur aus Eigeninteresse an und schrieben für sie eine passende Musik. Man bedenke: bis zur Einführung des Tonfilms war Filmmusik bzw. Kinomusik Live-Musik, also Konzertmusik, und je größer die Spielstätte, desto größer die Kinokapelle – in großen Lichtspieltheatern wurde man zur Blütezeit mit einem sinfonisch besetzen Orchester beglückt!

Murnaus Frühwerk

Die melodramatische Handlung von Murnaus Der Gang in die Nacht ist durchaus modern. Dr. Eigil Börne, ein angesehener Arzt, lässt seine Verlobte für eine naiv-laszive Tänzerin namens Lily im Stich und zieht mit ihr an die stürmische See. Als Landarzt gibt er einem mysteriösen blinden Maler (übrigens das Pendant zu einem tauben Komponisten) das Augenlicht wieder. Beim ersten Blickwechsel des Geheilten mit der Tänzerin verfallen die beiden einander in unaufhaltsamer Liebe. Jahre später ist der Arzt ein erfolgreicher Spezialist der Augenheilkunde, jedoch innerlich durch die Erfahrungen gebrochen. Als der Maler neuerlich zu erblinden droht, bittet die Tänzerin den Arzt, ihm erneut das Augenlicht wiederzugeben. Der Arzt rächt sich im Affekt, indem er als Preis dafür den Freitod der Tänzerin fordert. An ihrem Totenbett lehnt der Maler eine weitere Augenbehandlung ab, und geht „zurück in seine Nacht“.

„Die Synchronisation mit dem Film ist jedes Mal eine Herausforderung“

Lesen Sie das ausführliche Interview mit dem Orchester-Dirigenten Burkhard Götze über den besonderen Reiz von Stummfilm-Musik.

In dieser Handlung nimmt Murnau Motive vorweg, die er in seinen Meisterwerken wieder aufgreifen sollte: Die Liebesaffären an der Küste erinnern an Sunrise und den ersten Auftritt des blinden Malers setzt Murnau ebenso mysteriös in Szene, wie ein Jahr später den Vampir Graf Orlok in Nosferatu. Auch der nasse Asphalt, in den er den Letzten Mann in tiefen nächtlichen Straßenschluchten verschwinden ließ, klingt hier bereits als inszenatorisches Element an. Wenn Dr. Börne aus dem Hause Lilys kommt und noch einmal unheilahnend hinaufblickt, hört man als Zuschauer förmlich die letzten Tropfen auf dem Asphalt plätschern und spürt die Luft nach dem Regen – betörend und beklemmend zugleich. Die Bilder sind gekonnt komponiert und die Interieurs bemerkenswert ausgeleuchtet: Dezent und impressionistisch die Raumfluchten der Boudoirs und kontrastreich wie expressionistisch die dunklen und düsteren Landhaus-Szenerien.

Ein musikalisches Drama

Murnau beweist in seiner Art der Montage und Erzählweise, dass er ein sehr musikalischer Regisseur war. Der Untertitel „Symphonie“ bei Nosferatu beweist es einmal mehr. Umso reizvoller erschien es mir, die optische Komposition mit einer akustischen zu verschmelzen. Das Drehbuch des legendären „Film-Autors“ Carl Mayer (u.a. Das Cabinet des Dr. Caligari, 1919; Der letzte Mann, 1924) trägt in seinen fünf Akten Züge antiker Dramen und ist ergreifend poetisch geschrieben. Wer die Gelegenheit hat, einen Blick in das erhaltene Manuskript zu werfen, wird erstaunt sein: Mayers Beschreibungen der Filmbilder sind künstlerisch, hochromantisch, kantig und einprägsam zugleich und dabei immer zielführend geschrieben und scheinen in der Tradition der Regie-Bücher für Theater und Pantomimen zu stehen. 

Für Murnau war dies eine Steilvorlage und er bediente sich stilistisch eifrig an den einst so populären Meisterwerken des skandinavischen Stummfilms. In seiner Bildsprache greift er auch immer wieder Motive eines Caspar David Friedrich auf: Das sturmgepeitschte Meer wird zum wesentlichen Akteur einer Küstenlandschaft, welche sich süßlich berauschend um Liebeszenen schmiegt oder grausam tobend das unentrinnbare Schicksal begleitet. Schicksalhaft ist auch Murnaus Filmmontage: Im Wechsel von Spielszenen und Naturaufnahmen werden psychologische Zustände offenbart und der Film narrativ strukturiert. Der mystisch mit symbolträchtigen, stürmischen Naturaufnahmen arbeitende dritte Akt spielt dabei fast in Echtzeit: Er umfasst das Geschehen einer Stunde. Bedauerlicherweise galt dieser Akt bis in die 1980er Jahre als verschollen, womit der Film über Jahre seines Herzstücks und seiner Dramaturgie beraubt war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte nur ein Fragment des Films: Das originale Kameranegativ war zwar aufgetaucht, doch enthielt es keine Zwischentitel mehr (diese wurden in den Kopieranstalten auf einer separaten Rolle gelagert, um gesondert eingefärbt zu werden). Außerdem fehlte der dritte, zentrale Akt des fünfaktigen Dramas. Erst in den 1980er Jahren konnte der Filmhistoriker Enno Patalas vom Filmmuseum München den fehlenden Akt in der Sammlung des Gosfilmofond in Moskau lokalisieren. Er setzte einige Zwischentitel in den Film ein, die er nach spärlichen Quellen und einigen Drehbuchseiten sicher benennen konnte. Nun war der Film zwar fast vollständig, doch immer noch unverständlich – und nur schwarzweiß.

Erfolgreiche Restauration

2015/16 konnte das Filmmuseum München unter Stefan Drößler den Film erneut und erfolgreicher rekonstruieren und damit nicht nur Murnaus frühe Regiemeisterschaft belegen, sondern auch die großartige Kameraführung erstmals wieder richtig sichtbar machen. Das Drehbuch Carl Mayers war inzwischen vollständig aufgetaucht und ermöglichte – trotz zahlreicher Abweichung von Murnaus Filmfassung – im Abgleich mit zahlreichen Zeitungskritiken der Entstehungszeit die Rekonstruktion des Filmablaufs sowie der Texte der Zwischentitel. Die digitale Bildrestaurierung anhand des Kameranegativs, also des Ausgangsmaterials erster Generation, verdeutlicht beeindruckend, auf welchem hohen fotografischen Niveau das Kino sich um 1920 bereits befand. Nur selten hat man heute noch das Glück, einen so alten Film in so hervorragendem Zustand zu erleben. 

Die Ironie der Geschichte: Das kaum abgenutzte Kameranegativ zeugt davon, dass damals nur wenige Kopien gezogen wurden. Andere Filme, die länger und mehr rezipiert wurden, sind oft schlechter erhalten. Auch wurden nun die zeitgenössischen Einfärbungen (sog. Viragen) wieder berücksichtigt, wie sie zur Entstehungszeit des Films im Kino alltäglich waren: eine dramaturgisch unabdingbare Einfärbung zur Kennzeichnung von Tageszeiten und zur Abgrenzung der verschiedenen Szenerien. Die neue Restaurierung macht den Gang in die Nacht wieder zu einem authentischen Film, der mit den bisher verfügbaren Schwarzweiß-Ruinen nichts mehr gemein hat.

Seit 2016 ist Der Gang in die Nacht wieder als stilistisch überaus vollendeter Film zu sehen, der auch nach einer adäquaten Musik verlangte und dessen Vertonung mich ob seiner Vielseitigkeit reizte. Sicher hätte es im Jahre 1921 niemand für sinnvoll erachtet, einer kleinen Produktion wie dieser eine eigene Komposition zu widmen. Heute ist die Gewichtung anders und eine gute Musik kann auch aus einem kleineren Film ein Werk von Format schaffen. Das war mein Ansinnen und mein Experiment. 

Bei meiner Orchesterkomposition zu Der Gang in die Nacht stützte ich mich auf leitmotivische Prinzipien und kompositorische Techniken, wie sie in den 1920er Jahren in der Filmmusik üblich waren. In meiner Musik kommen etwa 20 Leitmotive und -themen vor sowie einige nur einmalig auftretende, szenengebundene Musikpassagen. Eklektizistisch mal in einem spätromantischen Klangduktus schwelgend, bediente ich mich ebenso an moderneren Musikströmungen der 1920er Jahre einerseits und zeitgenössischen Tanzmusiken andererseits. In einer absoluten Verzahnung mit der Filmfassung erarbeitete ich daraus eigene musikalische Freiräume, ohne den Film aus den Augen zu verlieren. Eingängige Themen wechseln sich mit illustrativ-temperamentvollen Passagen ab, fließen ineinander, schaffen Sinnzusammenhänge und führen den Zuschauer durch alle emotionalen Höhen und Tiefen des Filmwerks, dessen Zugang ich dem heutigen Publikum hoffentlich besser eröffnet habe. Ob es gelungen ist, darf der Zuschauer bzw. -hörer selbst entscheiden.

Ein Foto zeigt Stummfilmpianist Richard Siedhoff vor dem Klavier.

Richard Siedhoff (Jg. 1987) lebt in Weimar und ist freiberuflich als Stummfilmpianist, Theatermusiker und Komponist tätig. Er arbeitete als Cutter und studierte Musikwissenschaft, Kulturmanagement und Filmwissenschaft in Weimar, Jena und Leipzig. Mehrere seiner Kompositionen für Stummfilme wurden bereits international auf DVD und Blu-ray veröffentlicht, darunter auch seine Orchestermusik für Murnaus DER GANG IN DIE NACHT, eingespielt vom Metopolis-Orchester Berlin unter Leitung von Burkhard Götze (auf DVD in der Edition Filmmuseum). 2020 erhielt Siedhoff den ersten Deutschen Stummfilmpreis für seine Rekonstruktion der originalen Orchestermusik zu Paul Wegeners DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM.

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