Ein Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg von der Universität Erfurt über sein Buch Die beschädigte Kindheit, die frühkindliche Betreuung in der DDR und deren heutige Verklärung.
(Foto: privat)
MdM: Herr Professor von Rosenberg, Sie schreiben einleitend in Ihrem Buch, die negativen Auswirkungen des DDR-Krippensystems seien von der Forschung bisher zu wenig beleuchtet worden. Welche Gründe sehen Sie dafür?
VON ROSENBERG: Das liegt vor allem daran, dass sich die historische Forschung im Allgemeinen wenig für das DDR-Krippensystem interessiert hat. Als ich mit meiner Arbeit begonnen habe, dachte ich, dass es zu dem Thema eigentlich schon einiges geben müsste. Ich war überrascht, wie wenig Untersuchungen ich finden konnte; mit denen, die ich fand, war ich vielfach unzufrieden. Die meisten, die das Thema bearbeitet haben, nutzten nur die damals veröffentlichten Quellen der DDR-Krippenforschung. Dabei wurde wenig beachtet, dass in der DDR über die Krippen öffentlich nicht alles gesagt werden konnte und durfte. Deshalb habe ich versucht, einen anderen Weg zu gehen und mit meinen Mitarbeitern die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen erforscht, das für das Krippensystem zuständig war. In den Akten findet man sehr viel offenere Diskussionen über die Probleme und negativen Auswirkungen der DDR-Krippen, die ein realistischeres Bild vermitteln als die publizierten Quellen.
Nehmen Sie auch eine Verharmlosung des DDR-Krippensystems in der heutigen Bevölkerung wahr?
Der Wille, das DDR-Krippensystem zu verharmlosen, ist äußerst stark. Viele Menschen haben die Probleme der DDR gesehen und wissen auch, dass vieles dort nicht richtig lief. Aber das Krippensystem wird von vielen immer wieder und immer noch als ausschließlich vorbildlich dargestellt. Die entsprechende DDR-Propaganda war hier erfolgreich. Den Krippenkindern ging es im Rückblick immer gut, aus ihnen ist etwas geworden, sie hatten keine Probleme – und wenn doch, hatten diese Probleme nichts mit der Krippenbetreuung zu tun. An diesem Bild lässt sich nur schwer rütteln.
Fehlt es hier vielen an zeitlicher Distanz?
Ich glaube, es gibt mehrere Gründe. Die zeitliche Distanz erscheint mir gar nicht so relevant, vielmehr ist es so, dass viele Leute in der DDR überhaupt keinen Einblick in die Krippen hatten. Die Eltern durften die Krippen nicht betreten. Und die Kinder, die die Krippen besuchten, besuchten diese in einer Zeit, an die sie nur äußerst bruchstückhafte Erinnerungen haben. An die ersten drei Lebensjahre erinnert man sich nicht und insofern fällt es leicht, die frühe Kindheit zu beschönigen. Dann gibt es natürlich die Erzieherinnen, die Einblick in die Krippe hatten. Obwohl sich viele Krippenerzieherinnen sehr kritisch zu den Einrichtungen geäußert haben, gibt es auch einen großen Teil, der die Krippen für unproblematisch hielt. Das Argument ist hier oft: „Wir haben die Kinder geliebt und für sie alles getan“ – und das stimmt. Der überwiegende Teil der Erzieherinnen hat sich aufopferungsvoll um die Kinder gekümmert. An keiner Stelle meines Buches wird das bestritten. Viele meinen, wenn man die DDR-Krippen kritisch untersucht, würde man die Arbeit der Erzieherinnen kritisch untersuchen oder gar abwerten. Das stimmt so nicht. Die Erzieherinnen konnten an vielen Stellen gegen die strukturellen Probleme des Krippensystems wenig ausrichten. Um ein Beispiel zu geben: Je mehr Kinder in einem Raum waren, desto höher war das Infektionsrisiko der Kinder und desto häufiger wurden die Kinder krank. Wurden die Kinder zu häufig krank, litt die körperliche Entwicklung. Beispielsweise drückte sich das darin aus, dass die Krippenkinder im Durchschnitt kleiner und leichter als die ausschließlich in der Familie betreuten Kinder waren. Konnten die Erzieher dies grundlegend verändern? Natürlich nicht, es war für sie normal: Kinder werden krank. Dass die Kinder in der Familie sehr viel weniger und weniger lange krank wurden, zeigten die Vergleichsforschungen der DDR. In der alltäglichen Arbeit mit den Kindern war dies unter Umständen nicht so sichtbar.
Sie thematisieren im Buch häufig die Verlusterfahrung der Kleinkinder. Ohne zu stark zu verallgemeinern: Wie hat sich diese typischerweise langfristig ausgewirkt?
Die Frage müssen die Psychologen beantworten. Ich bin ein historisch arbeitender Erziehungswissenschaftler. Daher kann ich nur sagen, dass in der DDR keine Langzeituntersuchungen an Krippenkindern durchgeführt wurden. Es gab daran auch kein Interesse. Von den Verantwortlichen wollte niemand wissen, wie sich die Krippenerfahrungen längerfristig auswirkten. Entsprechende Forschungen wurden von vornherein nicht genehmigt. Aus historischer Perspektive habe ich untersucht, welches Wissen die DDR-Experten über die negativen Auswirkungen der Krippenbetreuung hatten und das war umfangreich. Die entsprechenden Fachleute, also die befassten Psychologen, Kinderärzte, Krippenforscher und die zuständigen Mitarbeiter des Ministeriums für Gesundheitswesen hatten einen sehr guten Überblick über die Verhältnisse in den Krippen. Sie konnten nur oft wenig daran ändern. Die Untersuchungen der DDR-Krippenforschung zeigen eindeutig, dass die physische und psychische Entwicklung der Kinder im Durchschnitt umso schlechter verlief, je länger die Kinder Zeit in der Krippe verbringen mussten. Das ist, was ich in dem Buch dokumentiere. Deshalb trägt das Buch den Titel „Beschädigte Kindheit“: weil es darum geht, aufzuzeigen, worüber in der DDR meist geschwiegen wurde, nämlich wie die frühe Kindheit durch die Krippenerfahrung negativ beeinflusst werden konnte. Um auf die Frage zurückzukommen: In der Wissenschaft ist es Allgemeingut, dass die frühe Kindheit prägend und für die späteren Lebensphasen auch relevant ist. Wie sich nun die Erfahrungen in den DDR-Krippen im späteren Leben genau ausgewirkt haben, kann ich anhand der ausgewerteten Quellen nicht dokumentieren. Das ist auch – anders als viele beim Lesen des Titels denken – nicht Thema des Buches.
Der Krippenausbau, so schreiben Sie, war „ein Prestigeprojekt“ für die DDR-Führung. Waren damit denn auch die zugehörigen finanziellen Investitionen und personelle Ausstattung verbunden?
So wurde es zumindest in der Öffentlichkeit verkauft. In den Zeitungen stand oft, wie großzügig der Staat sei, weil er Krippen für die Familien einrichtete und wie viel Geld er für die Kinder aufzuwenden bereit war. Die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen zeigen aber eindeutig, dass die Krippen über die Zeit hinweg immer unterfinanziert waren. Dass es immer wieder Probleme mit den Räumen und vor allem auch mit der Gewinnung, Ausbildung und Vergütung des Personals gab. Die Fluktuation des Krippenpersonals war äußerst hoch. Und wiederholt beschwerten sich die Krippenerzieherinnen, dass sie gegenüber den Kindergärtnerinnen weniger verdienten, obwohl die Arbeit nicht weniger belastend oder anspruchsvoll war. Ein Prestigeobjekt waren die Krippen für die DDR vor allem, weil sie den Müttern den frühen Wiedereinstieg in die Arbeit ermöglichten. Man konnte sich so durch die vermeintliche Gleichstellung der Frau von der Bundesrepublik und dem Westen ideologisch abgrenzen. Die Krippen wurden in erster Linie nicht für die Kinder, sondern für die Arbeit der Eltern und die ökonomischen Interessen des Staates eingerichtet. Intern wusste man, dass die Krippen für die Entwicklung der Kinder nicht förderlich waren und dass die Kinder in den Familien nicht immer, aber meistens besser aufgehoben waren. Öffentlich konnte man das so nicht sagen und insofern konnte man die Krippen nur durch Lügen als Wohltat für die Kinder verkaufen.
Konnten Sie bei Ihren Recherchen eine Veränderung oder Verbesserung des Krippensystems im Laufe der Jahrzehnte des DDR-Bestehens feststellen?
Natürlich haben sich die Krippen zwischen 1949 und 1989 grundlegend gewandelt. Eine wichtige Veränderung ist beispielsweise, dass die Krippen in den 1950er und teilweise auch noch in den 1960ern als medizinische Pflegestationen verstanden wurden. Mitte der 1960er Jahre wandelte sich das dann: Die Krippen wurden zur ersten Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems erklärt. Aus medizinischen sollten pädagogische Einrichtungen werden. Dadurch lassen sich schon Verbesserungen feststellen, auch wenn diese Bemühungen immer wieder durch den massiven Ausbau konterkariert wurden, und auch wenn Pädagogik nicht alle Probleme lösen konnte. Beispielsweise entwickelt sich die Sprache des Kleinkindes schlechter, wenn es größtenteils in der Gruppe angesprochen wurde. Genauso wie sich die Sprache des Kleinkindes besser entwickeln konnte, wenn es ausgiebige Möglichkeiten für das Kind gab, eins zu eins mit einem Erwachsenen zu sprechen. Bei Krippenbetreuungszeiten von acht bis zehn Stunden täglich verwundert es nicht, dass die sprachliche Entwicklung der Kinder, die ausschließlich in der Familie betreut wurden, im Durschnitt besser war, als die sprachliche Entwicklung der Krippenkinder. Die DDR-Krippenforscher kannten diese Fakten und diskutierten sie als Probleme der geteilten Aufmerksamkeit.
Wie haben Sie die Reaktionen von DDR-sozialisierten Personen und ehemaligen „Krippenkindern“ auf das Buch erlebt?
Das Buch polarisiert stark. Es gibt eine Reihe von Leuten, die nur den Titel wahrnehmen und dann schon wissen, was in dem Buch zu lesen sei. Sie denken, jetzt kommt wieder ein Wissenschaftler aus dem Westen und will ihnen erklären, wie es in der DDR war. Dass es in dem Buch darum geht, zu dokumentieren, was die Experten innerhalb der DDR über die negativen Auswirkungen der Krippenkinder wussten, bleibt bei diesen Kritikern, die immer wieder empört schreiben, außen vor. Es gibt aber auch sehr viele positive Reaktionen. Viele sind froh, mehr über das Leben in den DDR-Krippen, der vielfach ein Teil der eigenen Kindheit war, erfahren zu können. Ich habe sehr bewegende Zuschriften bekommen, vor allem von Menschen, die früher in Wochenkrippen und Säuglingsdauerheimen untergebracht waren. Diese Menschen ahnen oder wissen oft, wie wichtig diese Zeit für ihr späteres Leben war und wollen mehr darüber erfahren. Gleichzeitig können sie sich nur bruchstückhaft erinnern und ihre Eltern wissen in der Regel auch nicht mehr, weil sie die Kinder nur im Übergaberaum übergeben und abholen konnten.
Auch heute ist bei berufstätigen Eltern eine Tagesbetreuung auch für Kinder unter drei Jahren durchaus üblich, sei es durch Tagesmütter oder über einen Krippenplatz. Sehen Sie diese frühe Fremdbetreuung als weniger problematisch an?
Ich halte es vor allem für problematisch, wie geschichtsvergessen die gegenwärtigen Diskussionen über die Betreuung von Kindern unter drei Jahren verlaufen. Wir haben durch die Auseinandersetzung und Forschung in der DDR einen reichen Fundus an Wissen, was die Betreuung von Kindern unter drei Jahren angeht, der nicht zur Kenntnis genommen wird. Gegenwärtig tut man so, als hätte es die DDR-Krippen und die DDR-Krippenforschung überhaupt nicht gegeben und als könnte man aus ihnen und ihren Problemen überhaupt nichts mehr lernen. In der Diskussion kommt man so nicht weiter, sondern wird zurückgeworfen. Das DDR-Krippensystem hatte strukturelle Probleme bei der Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern, die auch heute noch gegenwärtig sind. Eine Auseinandersetzung hiermit könnte nutzen.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor von Rosenberg.
Florian von Rosenberg ist seit 2013 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Erfurt. Zuvor Promotion (2010) und Habilitation (2013) im Bereich Erziehungswissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Florian von Rosenberg:
Die beschädigte Kindheit.
Das Krippensystem der DDR und seine Folgen
C.H. Beck 2022
288 Seiten
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