Das Völkerschlacht-Denkmal zu Leipzig.

Napoleon und Mitteldeutschland: Rekonstruktion in drei Akten

Napoleon Bonaparte starb vor 200 Jahren, am 5. Mai 1821. Seine Verbindungen zur heutigen Region Mitteldeutschland sind vielfältig, nicht alle sind aber allgemein bekannt.
 

von Dr. Reinhard Münch

Der Gegenwärtigkeit großer Persönlichkeiten im eigenen Umfeld kann man kaum entgehen, das ist wohl der Lauf der Geschichte. Eines dieser omnipräsenten Phänomene ist die Person Napoleons, die wiederum für die nach ihm benannte Epoche steht. Um es voranzustellen: Die Frage, ob er nun der Gott oder Teufel war, muss jeder für sich beantworten und in sein Weltbild einpassen. Zum Glück sind die Antipoden 200 Jahre nach Napoleons Dahinscheiden heute nicht mehr so unversöhnlich ausgeprägt, wie es wenigstens bis Mitte des vorigen Jahrhunderts gesehen wurde. Belege? Man sehe sich die für die Allgemeinheit verfassten Beiträge und Verweise zum 250. Geburtstag des Kaisers im August 2019 an. Fast alle konnten sich eingestehen, dass mit dem heutigen Wissen und dem zeitlichen Abstand weder schwarz noch weiß als Erklärungsmuster taugen. Heraus kam ein aus meiner Sicht modisches und vertretbares Grau.

Nun ist es trotz allem spannend zu sehen, was das im Heute als Mitteldeutschland bezeichneten Gebiet mit Napoleon Bonaparte zu tun hatte. Das kollektive Gedächtnis erinnert dabei zuvorderst an zwei gewaltige Schlachten mit hunderttausenden Soldaten und einer schier unübersehbaren Anzahl an Opfern: Das waren die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt 1806, als das alte friderizianische Preußen hinweggefegt wurde, und die bis dahin größte kriegerische Auseinandersetzung der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, die das Ende Napoleons einläutete und zugleich die Restauration der alten Zeit für einige Jahrzehnte ermöglichte. Heute werden deren Jahrestage als Mahnmal für Völkerverständigung und in der Absicht der Friedenserhaltung begangen. Über diese monumentalen Schlachten zu schreiben wäre spannend, aber vielleicht nicht so anregend wie die Erinnerungen an einzelne, möglicherweise unbekanntere Episoden der Begegnungen zwischen dem französischen Kaiser und Mitteldeutschland.
Wenden wir uns deswegen zunächst den ersten Stunden und Tagen nach besagter Jenaer Schlacht im Thüringischen zu, die nämlich zur Geburtsstunde des Königreiches Sachsen werden sollten.

Erster Akt: Napoleon und die Gründung des Königreichs Sachsen

22.000 Sachsen hatten in Thüringen mitgefochten. 6.000 von ihnen gerieten in französische Gefangenschaft, aber nicht nur die Mannschaften wurden bald freigegeben, sondern auch die Offiziere wurden von Napoleon auf Ehrenwort in ihre Heimat entlassen. Alle hatten einen Eid zu leisten und ein Dokument zu unterzeichnen, das womöglich die entscheidende Grundlage für das Zusammengehen der Sachsen mit den Franzosen bis zum Oktober 1813 sein sollte:

Wir unterzeichnete Sächsische Generals, Obristen, Obristlieutenants, Kapitains und Offiziers, wir schwören auf unser Ehrenwort nie wieder die Waffen gegen S. Majestät den Kaiser von Frankreich und König von Italien, und Seine Alliirten zu ergreifen, wir schwören diesen Eid auch zugleich im Namen aller Unteroffiziers und Soldaten, welche mit uns gefangen worden sind, und wovon die Liste hier beigefügt ist, sogar wenn wir die förmliche Ordre dazu von unserm Befehlshaber, dem Churfürsten von Sachsen, erhielten. Jena, den 15. Oktober 1806.

Es war ein Sachse, der von Napoleon persönlich den Auftrag erhielt, des Kaisers Ultimatum an den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich August, nach Dresden zu übermitteln. Jener Auserwählte war der damalige Major und spätere General Ferdinand von Funck, ein durchaus umstrittener, aber wahrscheinlich ehrlicher und treuer Soldat seines Landes. Frankreich wolle Sachsen gar nicht haben, so der Sieger zu seinem Boten, er habe weitaus schönere Länder als dieses. Aber er wolle keine Feinde hinter sich lassen. „Sagen Sie Ihrem Fürsten, daß ich nichts Böses will, daß ich ihn beschützen und sein Freund sein werde, wenn er das Vertrauen, das er in mich setzt, unter Beweis stellt und nicht mein persönlicher Feind ist.“ Doch sollte diesen versöhnenden Worten keine Folge geleistet werden, werde er sogar den Namen der Dynastie Sachsen zerstören, so Bonapartes.

Das erneute persönliche Aufeinandertreffen mit Napoleon schilderte Funck in seinen Erinnerungen. So habe der Kaiser zunächst nach einführenden Worten eine Frage nach dem Aufenthaltsort des Kurfürstens gestellt, ob dieser – wie es einem Staatsmann gebührt – in Dresden residiere oder flüchtig sei. Erst dann öffnete der Korse den Brief – die Antwort auf das Ultimatum. Beim aufmerksamen Lesen wurden seine Züge sanfter und freundlicher Das war eindeutig. Schon im Dezember 1806 wurde aus dem Kurfürstentum Sachsen das Königreich, das zugleich die südliche Achse des Rheinbundes verstärkte.

Nach den Feldzügen 1806 und 1807 wählte Napoleon eine seiner Lieblingsstädte, nämlich das dem Grunde nach zu einer französischen Exklave gemachte Erfurt, zum Ort eines politischen Kongresses, den es so noch nicht gegeben hatte. Letztlich sollte der Frieden zwischen Frankreich und Russland gefestigt werden und zugleich große Teile des restlichen Europa auf Frankreichs Kurs eingeschworen werden. Der eigentliche Feind blieb außen vor – die Engländer. Neben der Vielzahl politisch relevanter Treffen gab es so manches, das bis heute aus anderen Gründen Beachtung findet.

Goethe und Napoleon in einer Darstellung von 1828

Die Audienz Johann Wolfgang von Goethes beim französischen Kaiser Napoleon I. im Kaiserlichen Palast am 2. Oktober 1808, hier in einer Darstellung aus dem „Illustrierten Kreuzerblatt“ von 1828.

 

Zweiter Akt: Der Erfurter Kongress 1808, Napoleon und Goethe

Theater, Empfänge, Ausstellungen und diverse Gesprächsrunden gab es überall. Jener vom Herzog Sachsen-Weimars Carl August ins Land geholte Johann Wolfgang von Goethe war mittlerweile weit über die Grenzen des kleinen Herzogtums hinaus als der Dichter Europas bekannt. Napoleon ließ es sich nicht nehmen, ihm eine Audienz zu gewähren. Am 2. Oktober um 11 Uhr kam es zur Begegnung. Nach einer Überlieferung trat der Dichterfürst ein und sah Napoleon beim Frühstück an einem großen runden Tisch sitzend. Der Kaiser winkte Goethe zu sich heran und das Gespräch begann mit allerlei Floskeln. Dann unterhielt man sich über die Werke des Universalgenies. Bonaparte zeigte sich dabei besonders beeindruckt von dessen „Werther“, den der Kaiser siebenmal (!) gelesen hatte. Die Fachsimpelei vergnügte beide. Goethe übte sich in Bescheidenheit und verwies auf die Leistungen seiner Kollegen Schiller, Lessing und Wieland (Napoleon kannte diese Herren nicht, nutzte aber die Chance, Wieland vier Tage später gleichfalls zu einer Unterredung einzuladen). 

Das Gespräch mit Goethe endete mit einem Fingerzeig des Kammerherrn, der bedeutete, die Zeit sei abgelaufen. Goethe verabschiedete sich höflich. Napoleon entließ ihn mit einem „Adieu, Monsieur Goethe.“ Zur Legende wurde diese Begegnung, weil sich hier zwei auf dem Zenit ihres jeweiligen Schaffens Stehende trafen. Goethe meinte Jahre später, dass er gern gestehen wolle, dass ihm in seinem Leben nichts Höheres und Erfreulicheres begegnet sei, als vor Napoleon gestanden zu haben und, so der Dichter weiter, „dass mein Wesen ihm gemäß sei“. Ihm schien es gefallen zu haben. Dieser Eindruck beruhte auf Gegenseitigkeit: Napoleon ließ Goethe das Kreuz der Ehrenlegion verleihen und erwähnte in seinen Memoiren dieses Gespräch keineswegs nur beiläufig. Noch lange nach der Erfurter Begegnung trug der Dichterfürst die ihm verliehene Auszeichnung mit Stolz, selbst nach dem Abtritt des Korsen, obgleich dieser, als Dämon verachtet, keinerlei Unterstützung mehr erfuhr. Goethe konnte es sich leisten, zu seiner Überzeugung zu stehen, heftete aber dennoch – wohl zur Beruhigung seines Umfeldes – neben das Kreuz auch einen ihm verliehenen Orden des russischen Zaren Alexander. Intellektuelle Analytiker werden schließlich herausarbeiten, dass Goethes Treffen mit Napoleon den Dichter endgültig zu seinem „Faust“ inspiriert haben soll. So hat die Nachwelt Einzigartiges vom Treffen des Kaisers in Thüringen bekommen.

Dritter Akt: Die Belagerung der Festung Magdeburg

Schließlich sei das Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt genannt. Jene Territorien waren im Wesentlichen so aufgeteilt, dass südliche Gebiete zu Sachsen gehörten, die Herzogtümer Anhalt-Dessau, Anhalt-Bernburg und Anhalt-Köthen weiter existierten und schließlich das von 1807 bis 1813 existente Königreich Westphalen einen vergessenen Platz in der Geschichte einnahm. Preußen fand nicht mehr statt. Obgleich Napoleon selbst nur selten in der Region war, hatte Frankreich mit Bedacht die Festung Magdeburg ausbauen lassen. Während in Leipzig die Völkerschlacht tobte, verteidigte eine Vielvölkerschaft jene Festung an der Elbe. Wenige Wochen vorher, im September, standen Spanier in den Schlagzeilen: Es war zu lesen, wie eine französische Division eingerückt war, deren Soldaten wie Diebe gestohlen hatten. In der Nacht zum 17. September kamen aus der Thurmschanze von Magdeburg zwei Kompanien des spanischen Regiments Josef Napoleon, 164 Mann stark, zum preußischen Vorposten der Belagerer. Sie wollten wieder in die Heimat. Man ließ sie passieren. Sie seien wohlbehalten auf der Iberischen Halbinsel angekommen. Am 7. November 1813 war der Blockadering geschlossen. Schon in der Folgewoche entließ der französische Kommandant alle deutschen Truppen –ohne Waffen natürlich, ohne Mäntel, Wäsche, Geld, sogar Pfeifen waren abzugeben – wegen ihrer gewachsenen Unzuverlässigkeit aus der Stadt. Bis zum Mai 1814 wurde die Festung Magdeburg belagert und erst nach der Abdankung Napoleons aufgegeben. Anfang Mai 1814 marschierten die Soldaten aus der Festung und kehrten nach Frankreich zurück. 

Drei Episoden von ungezählten anderen vermitteln so ein Bild jener Zeit. Dass es zudem eine Anzahl an Denkmalen und Erinnerungssteinen gibt, Ausstellungen und Museen über jene Zeit berichten, Schlachtennachstellungen jedes Jahr Zuschauer an ziehen und in Bibliotheken und Archiven unzählige Memoiren, Zeitbeschreibungen und historische Betrachtungen zu finden sind, ist freilich bekannt.

Der Autor

Dr. Reinhard Münch (Jg. 1959) ist promovierter Soziologe und Autor mehrerer Bücher zur sächsischen Regionalgeschichte, darunter der 2008 erschienene Band „Vive l’Empereur – Napoleon in Leipzig“. Er ist aktiv im Verband Jahrfeier Völkerschlacht b. Leipzig 1813, dem offiziellen Ausrichter der militärhistorischen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig. 

© 2024 Mitteldeutsches Magazin. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.