Die Nummer 1 war nicht die Nummer 1
Vor gut 260 Jahren wurde in Leipzig das erste Heft von Reclams weltbekannter Universal-Bibliothek gedruckt. Allerdings erschien die offizielle Nummer 1 der Reihe – Goethes Faust – erst zwei Jahre später. Eine Spurensuche.
von Hans-Jochen Marquardt
(Bildrechte: Reclam Museum / Hans-Jochen Marquardt)
Die berühmte Nummer 1 von Reclams Universal-Bibliothek, damals betitelt Faust. Eine Tragödie von Goethe. Erster Theil, erschien am ersten Tag, an dem es rechtlich möglich war, dem 10. November 1867, zeitgleich mit dem zweiten Teil des Faust, die Nr. 2 der Universal-Bibliothek. Gedruckt wurde die Nummer 1 in einer Auflage von 5.000 Exemplaren im Juli 1867.
Weitaus früher aber – nämlich bereits im März 1865 – wurde als erstes Heft der Universal-Bibliothek die Nummer 5 der Reihe produziert, William Shakespeares Trauerspiel Romeo und Julia (damals bei Reclam in der Schreibweise: W. Shakspere: Romeo und Julie). Weshalb das so ist, erklärt sich durch die Vorgeschichte.
10. November 1867 – geplanter Stichtag der „Gemeinfreiheit“
1867 begann gleichsam eine neue Zeitrechnung im Hause Reclam, denn mit der Etablierung und erfolgreichen Fortführung der Universal-Bibliothek (RUB) begründete der Verlag seinen Weltruhm. Drei Beschlüsse der Deutschen Bundesversammlung aus den Jahren 1837, 1845 und 1856 bildeten die gesetzliche Basis für die spätere Gründung der Universal-Bibliothek. Der Beschluss von 1856 war der bedeutendste, weil erst mit ihm die Werke derjenigen Autorinnen und Autoren am 10. November 1867 ‚gemeinfrei‘ wurden, die vor dem 9. November 1837 gestorben waren. Fortan mussten keine Vergütungen gezahlt oder Nutzungsrechte gekauft werden. Im Königreich Sachsen, in dem der Verlag seit seiner Gründung beheimatet war, wurde der Bundesbeschluss von 1856 erst durch ein entsprechendes Gesetz von 1864 wirksam.
Auf jenen 10. November 1867 hatten Verlagsgründer Anton Philipp Reclam (1807-1896) und sein Sohn Hans Heinrich Reclam (1840-1920) mit der Gründung der Universal-Bibliothek hingearbeitet, sodass sofort, ohne auch nur einen Tag Verzögerung, mit der Veröffentlichung von ‚gemeinfrei‘ gewordenen Werken in der Universal-Bibliothek begonnen werden konnte. Allerdings waren schon zwischen März 1865 und April 1867 insgesamt 25 Shakespeare-Dramen als Hefte der Universal-Bibliothek gedruckt worden. Von Mai 1867 bis September 1867 folgten weitere 28 Nummern (= 27 Titel) mit Werken anderer Autoren, sodass vor dem Stichtag des 10. November 1867 alles in allem 53 Nummern (= 52 Titel) der Universal-Bibliothek bereits gedruckt vorlagen.
Die ältesten Hefte der Universal-Bibliothek waren also nicht die berühmten Nummern 1 und 2 der Reihe mit den beiden Teilen von Goethes Faust-Drama. Vielmehr belegen diese in der Reihenfolge des Erstdrucks erst die Plätze 34 und 35.
Unmittelbarer Vorläufer der Universal-Bibliothek bei Reclam war die zwölfbändige Ausgabe der dramatischen Werke Shakespeares von 1858. Bis zum Gründungsjahr der Universal-Bibliothek 1867 ist sie in 15 Auflagen erschienen. Auf Initiative von Hans Heinrich Reclam wurde die Shakespeare-Ausgabe im Jahr 1865 in Einzeleditionen der 25 Dramen zu je zwei Silbergroschen aufgelöst, so dass eine kleine Reihe in genau jenem Format entstand, welches zwei Jahre später auch das Format der Universal-Bibliothek werden sollte.
Der Buchblock des ersten Heftes, Romeo und Julie, wurde, wie oben dargelegt, schon im März 1865 für die Nr. 5 der Universal-Bibliothek verwendet und lediglich mit deren Umschlag versehen. Analog verfuhr man mit den anderen 24 Dramen der Shakespeare-Reihe.
Geht man nicht nach der Serien-Nummer, sondern nach dem Datum der Drucklegung, war also Shakespeares Romeo und Julie das erste Heft der Universal-Bibliothek. Ausgeliefert werden durfte es aber erst, wie unter anderem auch die Nummern 1 und 2, am 10. November 1867.
„Multa et multum“ – oberster Reclam-Grundsatz
Anton Philipp Reclam hatte, wie viele andere Verleger seiner Zeit, rechtzeitig die ungeheuren Vorteile erkannt, die das Auslaufen der damals dreißigjährigen Schutzfrist, die heute siebzig Jahre beträgt, mit sich brachte, und daraus – gemeinsam mit seinem Sohn Hans Heinrich Reclam – ein verlegerisches Programm der Volksbildung entwickelt, das seinesgleichen sucht und sich bis heute als überaus tragfähig erweist. Es gab und gibt wohl kaum einen Menschen, der im deutschsprachigen Raum zur Schule ging bzw. geht, ohne irgendwann einmal mit Reclams Universal-Bibliothek in Berührung zu kommen.
Als die Universal-Bibliothek bereits fast 5.000 Nummern umfasste, hieß es in einem Verlagsprospekt von 1907: „Viel und gut, Berücksichtigung aller berechtigten Geschmacksrichtungen, multa et multum, das ist der oberste Grundsatz des Unternehmens.“ Das galt damals, und das gilt noch heute.
Der Autor
PD Dr. Hans-Jochen Marquardt (Jg. 1953) studierte Journalistik, Germanistik und Hochschul-Pädagogik in Leipzig. Promotion 1984, Habilitation 1991. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zu Heinrich von Kleist und dessen Umfeld, Reclam-Sammler und Gründer des Reclam-Museums.
Das Museum:
Das 2018 gegründete Reclam-Museum in Leipzig (Kreuzstraße 12) beinhaltet eine Präsenzbibliothek mit etwa 10.000 Heften von Reclams Universal-Bibliothek von 1867 bis zur Gegenwart und eine Dauerausstellung zur Vorgeschichte und Geschichte der ältesten noch existierenden deutschsprachigen Taschenbuchreihe.