Migrationsgeschichte(n) in und aus der Region

Aus unserer Rubrik „Weltoffenes Mitteldeutschland“: Das Projekt „Mi*story“ beleuchtet biographische Erzählungen von Migrantinnen und Migranten, die vor und nach dem Ende der DDR in Mitteldeutschland gelebt haben.
 

von Carina Großer-Kaya & Monika Kubrova

Weit vor dem 9. November 2019, als sich der Tag des Mauerfalls zum 30. Mal jährte, zeichnete sich ab, dass Migrant*innen in die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten kaum einbezogen werden würden. Wie Migrant*innen den Fall der Mauer erlebten, der den Niedergang der DDR einleitete, war deshalb Ausgangspunkt für einen Film, den das Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V. im Jahr 2019 in Auftrag gab. In wenigen Minuten erzählen hier Zeitzeug*innen von ihren Erinnerungen an dieses Ereignis. 

In etwa zeitgleich entstand die Idee, weitere Erinnerungen von Migrant*innen zu sammeln, die die Zeit der DDR sowie die Wende- und Nachwendejahre erlebten und noch heute in den ostdeutschen Bundesländern zu Hause sind. LAMSA e.V. konzipierte in Zusammenarbeit mit dem Dachverband der Migrant*innenorgani-sationen in Ostdeutschland (DaMOst) das Projekt „Mi*story. Migrationsgeschichten in und aus Ostdeutschland“. Es pausiert derzeit und wurde von März 2020 bis Februar 2022 vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer gefördert. 

Sowohl das Projekt als auch der Film setzen sich jenseits von Gedenktagen kritisch damit auseinander, dass die Migration in der DDR und Nachwendezeit ein randständiges Thema im gesamtdeutschen Diskurs ist. Auch in der politisch-historischen Bildungsarbeit zur DDR-Geschichte und in der Arbeit mit Zeitzeug*innen spielten die Perspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte in der DDR lange Zeit kaum eine Rolle. Der Rückblick und die Aufarbeitung war und ist stark auf die Erinnerungen und Biographien von deutschen ehemaligen DDR-Bürger*innen ausgerichtet, die vom erlebten Unrecht und dem Alltag in der DDR und der Nachwendezeit erzählen. So enthält beispielsweise die Datenbank des Zeitzeugenbüros der Stiftung Aufarbeitung kaum Zeitzeugen mit ostdeutscher Migrationsgeschichte. 

Dessen ungeachtet entstanden und entstehen seit den 1990er Jahren zahlreiche Initiativen, Projekte und kulturelle und künstlerische Arbeiten sowie Ausstellungen und Filme, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Migration in der DDR und der Nachwendezeit befassen: Beispielhaft genannt seien der Dokumentarfilm Bruderland ist abgebrannt von Angelika Nguyen aus dem Jahr 1991, das Theaterstück Sonnenblumenhaus von Dan Thy Nguyen von 2014 sowie die Initiative 12. August Merseburg. Dabei geht es oft auch um das Erinnern und Gedenken an die DDR und die Nachwendezeit aus migrantischer Perspektive.

Migrantischer Alltag im und nach dem Sozialismus

Das Projekt „Mi*story“ knüpft an diese Aktivitäten an und profitiert von ihren Erkenntnissen und Vorgehensweisen. Alle verbindet das gemeinsame Ziel, die Perspektiven von Migrant*innen einzubinden, in einem zeitgeschichtlichen Rahmen zu reflektieren und die individuellen und kollektiven Geschichten als Teil einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur sichtbar(er) zu machen. Ein wesentliches Ziel des „Mi*story“-Projekts besteht darin, lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen zu führen, die als Vertragsarbeiter*innen, Studierende oder politische Flüchtlinge in die DDR kamen. Über die Netzwerkstrukturen von ­DaMOst und den zugehörigen Landesnetzwerken konnten Interviewpartner*innen aus Mitteldeutschland, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gewonnen werden. Sie erklärten sich bereit, ihre Erlebnisse und Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 

Aus den zumeist rund zweistündigen Interviews entstanden biographisch verdichtete Erzählungen, die nun in dem Buch ‚… die DDR schien mir eine Verheißung.‘ – Migrantinnen und Migranten in der DDR und Ostdeutschland versammelt sind. Es beinhaltet lebensgeschichtliche Erzählungen vom migrantischen Alltag im Sozialismus und erzählt davon, mit welchen Konflikten Menschen nicht-deutscher Herkunft in Wende- und Nachwendezeiten zu kämpfen hatten – und welche Lösungen sie fanden, um ein gelingendes Leben in der neuen Bundesrepublik zu führen. 


„Es sind Migrant*innen, die schon früh zum Aufbau einer ostdeutschen Zivilgesellschaft beigetragen haben.“
 

Selbstorganisation und Selbstermächtigung

Ruft man sich Rostock-Lichtenhagen und weitere rassistische Ausschreitungen in Erinnerung, erscheinen Migrant*innen zweifellos als Opfer. Schmerzhaft thematisieren die Interviewpartner*innen erfahrene rassistische Gewalt. Aber die Biographien zeichnen auch ein anderes Bild, das es wert ist, in der kollektiven Erinnerung bewahrt und in der historischen Forschung näher untersucht zu werden: Es sind Migrant*innen, die schon früh zum Aufbau einer ostdeutschen Zivilgesellschaft beigetragen haben. Die 1990er Jahre waren nicht nur harte Jahre, in denen Migrant*innen um ihre materielle, oft genug leibliche Existenz und ihr Bleiberecht zu kämpfen hatten, sondern ebenso solidarische Jahre, in denen viele von ihnen ehrenamtlich in Ausländerbeiräten arbeiteten oder Vereine und Interessengruppen gründeten, um sich gegenseitig zu unterstützen, interkulturelle Initiativen anzustoßen und Neuzugewanderten beim Ankommen zu helfen. Vereine sind wichtige Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Migrant*innen, die in dieser Zeit Vereine gründeten oder sich in diesen engagierten, haben sich entgegen dem Opfer-Narrativ selbst organisiert und selbst ermächtigt.

In Dessau war es zum Beispiel Tatjana Schewtschenko, die sich seit Anfang der 1990er Jahre für Kontingentflüchtlinge aus Russland einsetzt und 1994 die Interessengruppe deutscher und russischsprachiger Mitbürger (später Dialog e.V.) gründete, deren Vereinsvorsitzende sie bis heute ist. Schewtschenko, geboren in der UdSSR, lebt seit 1980 in Dessau. 2016 wurde sie für ihr jahrelanges ehrenamtliches Engagement, mit dem sie in der Stadt zwischen Migrant*innen, städtischen Gremien, Verwaltung und Öffentlichkeit vermittelte, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

Yasser Muhammad kam 1988 aus Palästina in die DDR. Seit 1989 lebt er in Weimar. Anfang der 1990er Jahre gründete er mit anderen Engagierten den Verein Freunde Palästinas e.V., um die eigene Kultur öffentlich sichtbar zu machen. Heute gibt es den Verein nicht mehr, aber das Netzwerk besteht weiterhin. Aus diesem ging 2015 der Verein Kulturbrücke Palästina Thüringen e.V. hervor, den Muhammad ebenfalls mitbegründete: Hier engagiert er sich für Geflüchtete, indem er sie zu Ämtern begleitet, dolmetscht oder bei der Wohnungssuche hilft. Mit anderen setzt er sich dafür ein, dass in Weimar – einer Stadt, die er als sein Zuhause versteht – keine Parallelgesellschaft entsteht.

Migrantische Stimmen hör- und sichtbar machen

Auch Rudaba Badakhshi lebt seit vielen Jahren in Mitteldeutschland: Sie kam 1985 aus Afghanistan in die DDR. In Leipzig gründete sie in den 1990er Jahren den Verein ­OXUSS e.V., einen deutsch-afghanischen Akademikerinnen-Verein, der an der Universität und mit der städtischen Gesellschaft in Leipzig Lesungen sowie Musik-, Kunst- und Kulturveranstaltungen präsentierte. Dem Verein gelang es, die afghanischen Studentinnen in Leipzig untereinander zu vernetzen. Heute ist Badakhshi Vorstandsvorsitzende des Zentrums für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK e.V.), einer Migrant*innenselbstorganisation, die einen Schwerpunkt auf die politische Bildungsarbeit legt. 

Die angerissenen Beispiele aus der Region Mitteldeutschland zeigen: In einer Zeit, in der das wiedervereinigte Deutschland nach sich selbst suchte und dabei Menschen mit Migrationsgeschichte kaum mitbedachte, sind Migrant*innen mit ihren Vereinsaktivitäten für eine solidarische, offene und plurale Gesellschaft eingetreten. Das Projekt „Mi*story“ und das daraus hervorgegangene Buch mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Migrant*innen trägt dazu bei, die Repräsentation, Sicht- und Hörbarkeit migrantischer Stimmen als selbstverständlichen Bestandteil der Erinnerungen an die DDR, Wende- und Nachwendejahre einzubeziehen. 

Für unser Heute heißt das: ihre Perspektiven in Hinblick auf eine divers aufgestellte ostdeutsche Gesellschaft stärken, auch und gerade jenseits der einschlägigen Jubiläen und Gedenktage. 

Die Autorinnen

Dr. Monika Kubrova ist Historikerin 
und arbeitet beim Dachverband der 
Migrantenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) in Halle (Saale). Das Projekt „Mi*story. Migrationsgeschichten in und aus Ostdeutschland“ wurde von Dr. Carina Großer-Kaya geleitet, die heute Professorin für soziale Arbeit an 
der Fachhochschule der Diakonie (FHdD) in Bielefeld ist.

Das Buch zum Projekt

Carina Großer-Kaya/Monika Kubrova: 
„…die DDR schien mir eine Verheißung.“ – Migrantinnen und Migranten in der DDR und Ostdeutschland. 
Hrsg. vom Landesnetzwerk 
Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V., in Zusammenarbeit mit dem Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst)
Ammian-Verlag 2022
128 Seiten

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