Filmplakat zu "Die Nibelungen" von Fritz Lang

Nachklang des Zeitnervs 1924: Die Nibelungen von Fritz Lang

Der Weimarer Stummfilmpianist und Komponist Richard Siedhoff blickt auf Fritz Langs nunmehr 100 Jahre altes Film-Epos und zeigt, wie sich der Geist der deutschen Zwischenkriegszeit darin widerspiegelt. 
 

von Richard Siedhoff

Spätestens seitdem der letzte Nachhall expressionistischer Schatten mit der Machtergreifung der Nazis im deutschen Film verklang, verschwand auch der letzte Hauch jener mystischen Ahnungen, die den deutschen Stummfilm spätestens seit Der Student von Prag (Stellan Rye, 1913, Buch: Hanns Heinz Ewers), Der Andere (Max Mack, 1913) bis über Homunculus (Otto Ripperts, 1916/17) in den künstlerisch ambitionierten Filmen fast allgegenwärtig durchzogen. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren schien es im Kino noch selbstverständlich, dass Geister erscheinen, übernatürliche Kräfte die Geschicke der Menschen lenkten und instinktive Ahnungen den Protagonisten eigen waren. Robert Reinert plagt seine Protagonisten in Nerven (1918) und Opium (1919) mit surrealen Fantasie-Erscheinungen und Opium-Träumen. „Es gibt Geister, überall um uns herum“, sagt der Wahnsinnige Francis im Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1919) seinem ängstlichen Zuhörer. In Dr. Mabuse, der Spieler (Fritz Lang, 1922) lässt der Protagonist seine Patienten zu Opfern von Geistererscheinungen werden; das Übernatürliche wird zum Spiel- und Werkzeug. Filme wie Der verlorene Schatten (Paul Wegener, 1922), Schatten (Arthur Robison, 1923) und natürlich Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (F. W. Murnau, 1922) überschreiten die Grenze zu einer anderen, traumhaften Welt.

Dies alles ist ein Nachhall jener damals noch nicht weit zurückliegenden Generationen, die ohne elektrischen Strom aufwuchsen und denen der Glaube an Haus- und Naturgeister, Zwerge, Nixen, verborgene Schätze, Irrlichter und die Wilde Jagd in den Raunächten alltäglich war. Aufklärung und Industrialisierung verbannten die Geister in die Kunst, der Alltag wurde rationalisiert. 

Doch die alten Geister wird man nicht los. Gespenstisch spuken am Anfang von Die Straße (Karl Grune, 1923) die Reflexe und Schatten der Großstadtstraße vor den Augen des Protagonisten an der Zimmerdecke. Mythische Rituale und Erscheinungen, Anklänge an Heidentum, Mittelalter und Antike durchziehen Filme wie Der Golem (Paul Wegener, 1920), Faust (F. W. Murnau, 1926) und sogar Metropolis (Fritz Lang, 1926). Ja sogar realistische Werke wie Die Büchse der Pandora (G. W. Pabst, 1928) lassen Motive wie Besessenheit und den „Vamp” als neue Form des „Vampirismus” nicht aus. Hier schimmert die Welt der Sage und Märchen durch, die Wurzel der düsteren literarischen Romantik eines E. T. A. Hoffmann. 

Kein Wunder also, dass ein Film-Epos wie Die Nibelungen nicht nur als heroische Kompensation des verlorenen Krieges den Nerv der Zeit traf, nein, auch der getroffene „mythische Nerv“ des durch Armut, Inflation und Zügellosigkeit traumatisierten Volks ist nicht zu unterschätzen. Doch mit der Machtübernahme der Nazis 1933 erfuhren die alten Mythen und insbesondere Die Nibelungen endgültig ihren propagandistischen Missbrauch, der heute stärker nachhallt als das Echo der Botschaft aus Mythen und Sagen.

Das Märchen wird zur Mär

Im Zweiteiler Die Nibelungen schuf Fritz Lang 1922 bis 1924 mit seinem Team eine malerische Fantasie, eine optische Dichtung und eine mythische Weltflucht; in Zeiten der Hyperinflation lässt er Zwerge auferstehen, Drachen lebendig werden und erschafft ein Worms, das mit der Realität schon vom Geländeprofil her nichts gemein hat. Eine sagenhafte Parallelwelt, die die geistige Haltung der Nation spiegelt und vom märchenhaften Anfang bis zum bitter-realistischen Ende eine Brücke von der mythisch verklärten Vergangenheit bis zur Reflexion des aktuellen Zeitgeschehens schlägt: Der Sturm auf Etzels Burg und die finale Brandschatzung wecken deutliche Assoziationen zum Ersten Weltkrieg. Aus Märchen wird Mär, eine wahre Kunde aus alter Zeit. Kein Wunder, dass der erste, optimistischere und schwungvollere Teil Siegfried sehr viel erfolgreicher war als der fatalistische, in seiner Gewalt stellenweise sogar apokalyptische zweite Teil Kriemhilds Rache.

Monumentalfilm für neue Seh- und Hörerlebnisse

In den Zeiten der Inflation boomt in Deutschland der Monumentalfilm. Deutsche Filme können im Ausland zu Dumpingpreisen verkauft werden und so wird das Geld rasch eingespielt. Zahllose Komparsen retten sich durch die Arbeit beim Film durch die Krise. Fast alle großen Regisseure überbieten sich in ihren Großfilmen an Ausstattung, Studiobauten und Komparserie. Wo Joe May mit dem Achtteiler Die Herrin der Welt (1918/19) italienisches Monumentalfilmkino imitiert und Ernst Lubitsch von Madame Dubarry (1918) bis Das Weib des Pharao (1922) in Deutschland ebensolche Grundsteine legt, da folgen unter anderem Richard Oswald mit Lucrezia Borgia (1922), Robert Wiene mit I.N.R.I oder Manfred Noa mit seinem Zweiteiler Helena. Der Untergang Trojas (1924). Letzterer verdankt Langs Nibelungen deutliche Inspirationen. 

Brennende Burg von Etzel: Szenenfoto aus "Die Nibelungen" von Fritz Lang

Sturm auf Etzels Burg: 
Anklänge des Ersten Weltkriegs im verfilmten Nibelungen-Mythos?

1922 schuf Fritz Lang mit seinem Zweiteiler Dr. Mabuse, der Spieler wiederum ein Zeitbild, welches den gebürtigen Wiener durch seine künstlerische Gestaltung und den stringenten Rhythmus zum neuen Starregisseur des deutschen Kinos (nach der Emigration von Ernst Lubitsch) machte. Daraufhin gibt ihm der Produzent Erich Pommer für sein Folgeprojekt völlig freie Hand und die Nibelungen-Filme werden zum Staatsakt: Außenminister Stresemann hält zur Uraufführung eine Rede. 

Doch Lang ist nicht allein verantwortlich, ein Team fantastischer Künstler unterstützt ihn. Jedes Wochenende treffen sich, bei Teamsitzungen im Hause Lang & Harbou und bekocht von Langs damaliger Ehefrau und Drehbuchautorin Thea von Harbou, unter anderem der Filmarchitekt Erich Kettelhut, der Kameramann Günther Rittau; auch der Komponist Gottfried Huppertz ist von Anfang an dabei. Er entwirft schon während der Drehbuchphase Leitmotive für die einzelnen Figuren und Szenenmusiken für die verschiedenen „Welten“ des Films und spielt sie Lang vor. Auch bringt er etwas in den Film ein, das die Filmmusik revolutionieren wird: In Absprache mit Lang werden die Szenen „gebündelt“ und allzu viele Parallelmontagen (wie noch in Dr. Mabuse) vermieden. Das gibt Huppertz die Gelegenheit, seinen musikalischen Abschnitten längere musik-dramaturgische Bögen zu verleihen. Damit wird er einer Kritik gerecht, die der Filmmusik-Pionier Hans Landsberger bei seiner Komposition zu Der Golem (1920) einstecken musste: dass der Film Landsberger gezwungen habe, durch die vielen raschen Szenenwechsel seine musikalischen Einfälle immer wieder „abzubrechen“, wenn er gerade im „schönsten Schwung“ war. 

Huppertz, der musikalischen Romantik weit mehr verpflichtet als der Avantgarde, hat hingegen ein ganz anderes Problem: Ihm wird schon während der Produktionsphase vorgeworfen, sich mit Richard Wagner messen zu wollen. Von dessen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, dem auch nach 1920 noch wichtigsten nationalen Werk der Musikliteratur, wollen Lang und von Harbou aber völlig abkommen und berufen sich auf die Volkssagen um das Nibelungen-Lied. Das wiederum gibt Huppertz musikalische Freiheit – und die Gelegenheit, etwas zu komponieren, was es bei Wagner nicht gibt: „Hunnen-Musik“. Huppertz löst die Frage nach dem „Hunnen-Klang“ mit Bravour, indem er im zweiten Teil eine Klangsprache entwirft, die die Strenge am Hofe Worms ebenso sprengt, wie Langs exotische Bilder, welche im scharfen Kontrast zu den strengen, von Ornamenten und Romanik und Jugendstil-Einflüssen geprägten Bildern des ersten Teils stehen. Als visuelle Inspiration dienten Lang unter anderem die Illustrationen von Carl Otto Czeschka für das Jugendbuch Die Nibelungen von 1908.

Reales und Fiktion

Aber auch die Protagonisten transformieren sich von Teil 1 zu Teil 2. Der anfangs „Treue Hagen“ wird zur blutrünstigen Bestie, der edle König Gunther zu einer machtlosen Spielfigur und Kriemhild, die unschuldig schöne Jungfrau des ersten Teils, wandelt sich durch puren Hass zu einer Rache- und Totengöttin: Gestützt von der Macht König Etzels wächst sie über sich und alle anderen Protagonisten hinaus und führt die Geschichte zum unausweichlichen, tödlichen Ende für fast alle Beteiligten, indem sie dem Mörder Hagen Gelegenheit gibt, im Eifer des drohenden Gefechts Kriemhilds und Etzels Sohn zu ermorden und sein wahres Gesicht zu zeigen (das Kind, so erzählen es auch einige Sagen-Quellen, könnte nämlich auch Siegfrieds Kind sein). 

Etzel, der in der historischen Geschichtsschreibung unter dem Namen Attila bekannt ist, hatte seine Burg wohl im heutigen Gran an der Donau (Ungarn). Auch Bechelaren, Worms und der Odenwald, ja selbst Isenland (Island) sind reale Stätten. Und verfolgt man die Reise der Burgunden von Worms ins heutige Ungarn, so lassen sich Handlungsorte, Route und auch zeitliche Distanzen sehr gut rekonstruieren. Geschichtsschreibung und mündliche Überlieferungen (das Nibelungen-Lied wurde von wandernden Spielleuten gesungen, ehe es Anfang des 13. Jahrhunderts erstmals schriftlich festgehalten wurde) weisen erstaunliche Parallelen auf. 

Wie viel Wahrheit ist also dran an der Geschichte? Lässt sich auch der berühmte Drachenkampf, der Goldschatz der Nibelungen oder das von Feuer umgebene Schloss der Brunhilde auf „Isenland“ auf reale Begebenheiten zurückführen? Das Feuer findet seine Entsprechung in den Vulkanen Islands, der Drache oder Lindwurm könnte eine sagenhaft umgedeutete Version eines in Tiergestalt agierenden, heidnischen Schamanen sein, den der christlich gesinnte Siegfried in missionierender Absicht enthauptete. Nach dem Nibelungengold im Rhein wird nach wie vor geforscht. Die mündlich tradierten Mären sind sozusagen auch nur eine Variante der realen Geschichte. Das Ahnungsvolle im deutschen Stummfilm ist also gar nicht so weit hergeholt.

Kino als nationales Ereignis 

Langs Film, der nach der Stabilisierung der Mark in die Kinos kommt, läutet die Goldenen Zwanzigerjahre ein: Die Nibelungen waren bereits 1924 ein nationales Ereignis, dessen Bedeutung uns heute klar wird, wenn wir in damaligen Kino- und Werbe-Anzeigen aus ganz Deutschland Hinweise lesen, dass nach Beginn der Vorstellung „kein Nacheinlass“ gestattet war und die hauseigenen Kino-Orchester für die Huppertz-Musik „aufgestockt“ wurden. Bis dahin war es Usus gewesen, dass das Publikum insbesondere in kleineren Kinos kommen und gehen konnte, wann es wollte. Mit diesem Film adelte Fritz Lang das Kino endgültig und Die Nibelungen stellten den Film mit den Kunstgattungen Oper und Schauspiel auf eine Stufe. 

Thea von Harbou, Ehefrau Fritz Langs und Autorin des Drehbuchs, teilt das Epos in zwei Teile zu je sieben Filmakten auf, die sie „Gesänge“ nennt. Sie verdichtete die Vorlage des Nibelungen-Liedes zu einer dramatischen Saga, die unausweichlich auf das bittere Ende zusteuert. Der heroisierende einleitende Zwischentitel „Dem deutschen Volke zu Eigen“ erscheint am Ende der „Mär“ angesichts der menschlichen Tragödien, der unermesslichen Zerstörung und des unfassbaren Leides weniger als Widmung, denn als ein Vorwurf und eine Mahnung an eben jenes Volk. „Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel!“, lässt von Harbou Dietrich von Bern zum Hunnenkönig in bestürzendem Fatalismus sagen (mit Bern meinte man im mittelhochdeutschen Sprachraum übrigens Verona). Die Nibelungen-Treue als sicherer Weg in den Tod, die Reflexion des Ersten Weltkriegs als Vorahnung der deutschen Apokalypse im Dritten Reich. Thea von Harbou sagte selbst, dass die Germanen im Nibelungen-Lied besser verstünden, heroisch zu sterben, denn heroisch zu leben. Mit diesem wahrheitsfernen Geschichtsbild gab sie den Nazis freilich deftiges Futter.

„Die Synchronisation mit dem Film ist jedes Mal eine Herausforderung“

Lesen Sie das ausführliche Interview mit dem Orchester-Dirigenten Burkhard Götze über den besonderen Reiz von Stummfilm-Musik.

1933 kommt der erste Teil unter dem Titel Siegfrieds Tod anlässlich des Wagner-Jahres erneut in die Kinos: in einer Tonfassung mit von Gunter-Darsteller Theodor Loos gesprochenem Prolog. Huppertz überarbeitet seine Musik für den stark gekürzten und teils umgeschnittenen Film (von 3.210 Metern blieben nebst neu gesetzten Zwischentiteln noch 2.258 Meter übrig – 80 Minuten bei Tonfilmgeschwindigkeit) und durchsetzt sie mit kurzen Wagner-Zitaten. Obwohl diese Fassung bereits 1932 erstellt wurde, kommt sie den Nazis sehr gelegen. Fritz Lang wird die Führerschaft des deutschen Films angeboten, doch er lehnt ab und flieht über Frankreich in die USA. Siegfrieds Tod wird von den Nazis ideologisch und ästhetisch ausgeplündert; Langs Bilder werden zur Vorlage für NS-Propaganda-Inszenierungen in der neuen Wirklichkeit: Teil 1 wird als Siegfrieds Tod (schon der Titel scheint zum Märtyrertod anregen zu wollen) zum Nationalepos erklärt, der zweite Teil verschwindet im Archiv.

Umso bedauerlicher ist, was von den beiden Filmen nach dem Zweiten Weltkrieg übrigblieb. Während der erste Teil noch relativ unbeschadet auf Basis einer französischen Fassung, in welche man die Zwischentitel der deutschen Fassung von 1932 integrierte (den 1932 gekürzten Falkentraum ließ man jedoch ganz weg), und mit neuer, voller orchestraler Musik von Edgar Bischoff (als Tonspur) versehen in die Kinos kam (immerhin zwölf Minuten länger als die Fassung von 1932), bekam man vom zweiten Teil nur ein lächerliches Fragment zu sehen. Basierend auf der englischen Kurzfassung, brachte man Kriemhilds Rache als eine knapp 60-minütige Version ins Kino, in der sich auch noch einige populäre Szenen aus Teil 1 – etwa der Drachenkampf sowie der Tod Siegfrieds – als Rückblenden wiederfanden. Sinn, Verstand und Ästhetik gehen dieser Fassung völlig ab. Mit etwas weniger als der halben Spielzeit des einstigen Originalfilms kann man diese von Atlas-Film seit den 1960er Jahren vertriebene Fassung ohne Weiteres auf Platz 1 der am drastischsten verstümmelten Filme der Geschichte stellen. 

Etwas später brachte Blackhawk Films in den USA eine wesentlich längere Fassung des zweiten Teils mit zweisprachigen Zwischentiteln – deutsch und englisch – heraus. Diese basierte offenbar auf einer Version, die man für Überseeschiffe auf der Route Deutschland-Amerika hergestellt hatte.

Rekonstruktion am Filmmuseum München

Erst in den 1980er Jahren unternahm Enno Patalas mit Gerhard Ullmann und Klaus Volkmer am Filmmuseum München eine mustergültige Rekonstruktion beider Nibelungen-Teile. Während Teil 1 in einer kompletten Kopie in Moskau aufgefunden wurde – mitsamt originalen Zwischentiteln! - bedurfte es für den zweiten Teil einer aufwändigen Rekonstruktion. Basis dafür waren eine russische Kopie sowie zwei Kopien aus der Bundesrepublik, eine österreichische (mit einigen originalen Titeln) und besagte englische Kurzfassung. 

Der Zufall wollte es, dass ein alter Kameramann dem Filmmuseum just die schmerzlich vermisste Zensurkarte der Filmprüfstelle Berlin mit dem Wortlaut aller Zwischentitel zu Kriemhilds Rache übergab. So konnte der zweite Teil dann mit Hilfe des ebenfalls inzwischen aufgefundenen Klavierauszugs der Huppertz-Musik anhand der darin zahlreich vorhandenen Stichworte zum Filmablauf – genutzt für die Synchronisierung der Musik für den Dirigenten oder Pianisten – rekonstruiert und die Szenen in die richtige Reihenfolge gebracht werden. Fehlende Zwischentitel wurden vom Trickfilmstudio Rudolf Pfenninger stilgetreu neu hergestellt und beschädigte (durch Umkopierung schlecht lesbare) Titel retuschiert. 

Drei Szenen fehlen jedoch bis heute: Erstens: wie Rüdiger zu Beginn am Kamin mit Volker spricht. Zweitens: eine Szene, in welcher Königin Ute (Kriemhilds Mutter) im Gemach umhergeht und schließlich am Fenster den Abschied Kriemhilds von ihren Brüdern beobachtet (diese Szene ist jedoch schon im Klavierauszug als gekürzt vermerkt). Und schließlich drittens: wie Kriemhild ihre Brüder an Etzels Hof jeweils mit einem scharfzüngigen Satz empfängt und Etzel sie schließlich versöhnlich in ihre Gastgemächer bittet.

Partituren-Fund auf dem Dachboden

Etwa um 1980 fand Gero Gandert – ehemaliger Kustos an der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin – bei der Witwe von Gottfried Huppertz im oberbayerischen Fischbachau auf dem Dachboden die schmerzlich vermissten (handschriftlichen) Partituren zu Zur Chronik von Griedhuss (1925), Metropolis (1926) und eben Die Nibelungen. Während Siegfried komplett vorlag, fehlten von den sieben Gesängen in Kriemhilds Rache ganze fünf; lediglich Gesang 2 und 3 sind in der vollen Orchestrierung Huppertz‘ überliefert. Gesang 5 und 6 existieren immerhin in einer unter Huppertz Mitwirkung entstanden Salonorchester-Fassung (für kleinere Kinos) und Gesang 1, 4 und 7 lagen nur in der bereits bekannten Klavierfassung vor. Diese fünf Gesänge mussten also erneut für großes Orchester instrumentiert und eingerichtet werden. 

Diese Aufgabe übernahm 1985 zunächst in meisterhafter Vollendung der Komponist Stephan Zorzor. Die Musik zu Teil 1 wurde von Berndt Heller aus heute unverständlichen Gründen insbesondere am Anfang stark gekürzt und verlangsamt – musste er vielleicht den Film zunächst bei einer Vorführgeschwindigkeit von 24 Bildern je Sekunde begleiten und hatte daher das starke Tempo am Anfang durch regelmäßige Kürzung von Takten reduziert? 

Unter Hellers Leitung wurden beide Nibelungen-Teile 1986 in München uraufgeführt. Die österreichische Kopie mit den originalen Zwischentiteln tauchte übrigens erst 1987 auf – Filmrekonstruktionen waren oft ein jahrelanges Puzzlespiel. Doch spätestens 1990 waren Die Nibelungen endlich wieder das, was sie sein sollten: ein monumentaler Sog in die Abgründe der deutschen Seele. 

Margarete Schön als Figur "Kriemhild": Szenenfoto aus "Die Nibelungen" von Fritz Lang

Von der unschuldigen Jungfrau zur Rachegöttin: Kriemhild (dargestellt von Margarete Schön)

Optische Aufwertung vs. verlorene Intensität

2010 legte dann die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung eine neue Restaurierung beider Teile vor, bei denen der Fokus offensichtlich auf einer optischen Aufwertung lag. Der erste Teil konnte dadurch durchaus gewinnen, während Teil 2 wiederum an Stärke verlor: Mit 22 Bildern pro Sekunde läuft er nun zwei Bilder schneller als die Münchner Fassung, wodurch sich aber nicht allein der Laufzeit-Unterschied (20 Minuten weniger) erklären lässt. Tatsächlich griff man als Basis auf das dritte und einzig erhaltene der drei originalen Kamera-Negative von Kriemhilds Rache zurück, welches jedoch für den englischen Markt stark „beschleunigt“ wurde. Das heißt, man kürzte 1924 für das Ausland die Einstellungen in sich, um dem Film mehr Tempo zu verleihen. Dadurch verlor Langs Film aber nun seinen Rhythmus – und da es sich um das dritte Negativ mit den drittbesten Takes und Spielvarianten handelt, leidet diese Rekonstruktion hin und wieder an schauspielerischen und gestalterischen Schwächen: So sitzen Beleuchtungseffekte nicht immer perfekt, der Fokus der Kamera liegt mal auf dem Hintergrund statt den Protagonisten im Vordergrund scharf abzulichten und an vielen Stellen fehlt einfach die Lang’sche Intensität. 

Am drastischsten ist jedoch die Entscheidung, zugunsten einer besseren Bildqualität auf wertvolle, effektreiche, handgezeichnete Spezialeffekte zu verzichten: In allen vorigen Fassungen sahen wir noch, wie Blaodel dem zu Etzels Festsaal flüchtenden Dankwart einen Pfeil in den Rücken schießt und wie der getroffene eine Axt nach Blaodel wirft. Die Flugbahnen von Pfeil und Axt wurden (so beschreibt Erich Kettelhut in seinen Memoiren Im Schatten des Architekten denselben Effekt bei Hagens tobringenden Speerwurf) im Zwischenpositiv per Hand mit einer feinen Nadel in die Emulsion des Films eingekratzt. Von diesem Zwischenpositiv wurde das Zwischennegativ gezogen, von welchem wiederum die Vorführkopien gezogen wurden. Da man bei der 2010er-Restaurierung ausgerechnet auch hier das Kameranegativ verwendete, in welchem diese Effekte (noch) nicht enthalten waren, fehlen sie nun auch in der Restaurierung. Den gleichen Effekt vermisst man nun auch schmerzlich bei der finalen Brandschatzung: Dort ließ man die Fackelflammen der Hunnen sowie einige Pfeilflüge grell leuchten.

Bedauerlich sind diese Konzessionen zugunsten einer besseren Bildqualität im Hinblick auf die enormen Kosten der Restaurierung, welche mit 750.000 Euro das teuerste Restaurierungsprojekt der Murnau-Stiftung war. Fairerweise muss man aber konstatieren, dass auch in der Münchner Restaurierung ebenfalls viele „schlechtere“ Takes enthalten waren, die wiederum in der neueren Restaurierung besser sind. Immerhin sehen wir in der neuen Fassung auch, wer Kriemhild am Ende den Gnadenstoß verpasst: Hildebrand (diese Einstellung fand sich in einer Rolle Outtakes). Eine Kombination beider Fassungen wäre ein ausstehender Schritt in Richtung Perfektion.

Leider fehlen in beiden Restaurierungen auch noch zwei Zwischentitel, die sowohl in der Zensurkarte als auch im Klavierauszug angegeben sind. Wenn Kriemhild ganz am Ende zusammensinkt, spricht sie eigentlich noch: „Nehmt meinen Kopf, Herr Etzel! Mich reut meine Tat nicht!“. Auch ein überbrückender Titel im dritten Gesang fehlt. Zunächst lesen wir aus dem Munde Rüdigers: „Noch einmal, Nibelungen, ehe Herr Etzel kommt, Euch zu begrüßen: Vergeßt es nicht, zu wem Euch Etzel führt!“. König Gunter erwidert: „Wie sollten wir vergessen, Herr, daß wir zu unserer Schwester Kriemhild kommen?“. Danach fehlt als Überbrückung zur Szene mit Kriemhild ein Titel, der im Klavierauszug benannt ist, aber in der Zensurkarte fehlt und sich jedoch vollständig im Nibelungen-Buch von Thea von Harbou folgendermaßen liest: „Nicht eure Schwester: Siegfrieds unselige Witwe lud Euch zu Gast.“ Warum diese beiden Titel aktuell nicht in die Restaurierung aufgenommen sind, erklärt sich dem Außenstehenden leider nicht.

Noch immer nicht (ganz) vollständig

Nimmt man aber alles zusammen und stützt sich auf inhaltliche Vollständigkeit – was nicht heißt, dass der längere Take automatisch der bessere ist! – dann fehlen bei 22fps in der 2010er Fassung immer noch rund zehn Minuten Filmmaterial, welches in anderen Kopien vorhanden ist. Die verschollenen Szenen eingerechnet, fehlen zur Zensurlänge von 1924 sogar zwölf Minuten. Die Anekdote, dass Fritz Lang kurz vor der Premiere den fertigen zweiten Film vollständig auseinandergenommen habe und man während der Premiere längere Pausen machen musste, da man noch auf die fertigen Filmrollen wartete, ist ein schwaches Argument, da man ohne Zweifel für den Vertrieb den Film dann auch in Langs und Huppertz‘ Sinne fertiggestellt haben musste.

Unter dem hohen Tempo der jüngsten Restaurierung leidet dann auch die Huppertz-Musik im zweiten Teil mitunter deutlich (wegen der gekürzten Einstellungen im verwendeten Material, nicht wegen Erhöhung der Bildfrequenz von 20 auf 22 fps). So muss Dirigent Frank Strobel die Musik zu der Szene, in welcher Etzel das erste Mal sein Kind erblickt (und eigentlich seiner Frau Kriemhild langanhaltende Ehrerbietung entgegenbringt), fast im doppelten Tempo durchpeitschen, da eben diese langen Gesten hier gekürzt sind. Die Neuinstrumentierung der fehlenden Orchesterparts übernahm diesmal Marco Jovic und geht dabei wesentlich quellentreuer vor als noch Stephan Zorzor, indem er nur das instrumentiert, was auch im Klavierauszug bzw. der Salonorchester-Fassung notiert ist. Dass das natürlich zu Teilen nur ein musikalisches Gerüst ist und symphonischer Tiefe entbehrt, liegt auf der Hand. Das hört man leider auch an jenen Stellen, wo musikalische Abschnitte aufgrund fehlender Referenz zu „schon dagewesenem“ musikalischen Material völlig neu orchestriert werden mussten. Beispiele dafür sind der Klagegesang Volkers oder die Kampfszenen in den Höhlenwohnungen der Hunnen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit ein „Mehr-Hinein-Komponieren“ im Stile Huppertz am Ende mehr Authentizität gebracht hätte als die zurückhaltende Wahrung des Vorhandenen in der aktuellen Fassung von Jovic/Strobel.

Aber am Ende ist dies alles Klagen auf hohem Niveau. Viel wichtiger erscheint, dass beide Filme nun für die Nachwelt wieder „zusammengepuzzelt“ wurden und erhalten bleiben als ein mahnendes Werk voller Tiefe, Zeitgeist – und als ein künstlerischer Höhepunkt der damals noch jungen Filmkunst.

Ein Foto zeigt Stummfilmpianist Richard Siedhoff vor dem Klavier.

Richard Siedhoff (Jg. 1987) lebt in Weimar und ist freiberuflich als Stummfilmpianist, Theatermusiker und Komponist tätig. Er studierte Musikwissenschaft, Kulturmanagement und Filmwissenschaft in Weimar, Jena und Leipzig. Er hat bislang weit mehr als 400 Filmklassiker begleitet. Neben Klavierkompositionen und -improvisationen für Stummfilmkonzerte schreibt er auch Filmmusiken für Orchester und Kammerensemble, darunter auch eine Orchestermusik zu Fritz Langs DER MÜDE TOD. 
Mehrere seiner Kompositionen für Stummfilme wurden bereits international auf DVD und Blu-ray veröffentlicht. 2020 erhielt Siedhoff den ersten Deutschen Stummfilmpreis für seine Rekonstruktion der originalen Orchestermusik zu Paul Wegeners DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM.

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