Bergbaufolgelandschaft nahe Espenhain bei Leipzig

Was kommt nach dem Fortschritt? Nachhaltigkeit in der Region Mitteldeutschland

von Mareike Pampus und Jonathan Everts

 

Was bedeutet Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit besteht darin, die Bedürfnisse heutiger Menschen zu erfüllen, ohne die Bedürfnisse zukünftiger Generationen zu gefährden, und dabei ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und sozialem Wohlergehen zu gewährleisten. Im weitesten Sinne bezeichnet Nachhaltigkeit die Fähigkeit, einen solchen Prozess kontinuierlich über Zeit aufrechtzuerhalten oder zu unterstützen. Im wirtschaftlichen und politischen Kontext versucht Nachhaltigkeit, die Erschöpfung natürlicher oder physischer Ressourcen zu verhindern, damit sie langfristig verfügbar bleiben. Dementsprechend betonen nachhaltige Strategien die zukünftigen Auswirkungen einer bestimmten Politik oder Geschäftspraxis auf Menschen, Ökosysteme und die Wirtschaft insgesamt. Das Konzept der Nachhaltigkeit geht oft mit der Überzeugung einher, dass der Planet ohne größere Änderungen in der Art und Weise, wie er bewirtschaftet wird, irreparable Schäden erleiden wird. 

Mit zunehmender Besorgnis um den anthropogenen Klimawandel, den Verlust der Biodiversität und die Umweltverschmutzung hat sich der Diskurs um nachhaltige Praktiken und Richtlinien verstärkt, vor allem durch Forderungen nach nachhaltigen Geschäftspraktiken und höheren Investitionen in „grüne“ Technologien.
Die Idee der Nachhaltigkeit wird oft in drei Säulen unterteilt: Ökonomie, Umwelt und Soziales – informell auch bekannt als Profit, Planet und People. In dieser Aufschlüsselung konzentriert sich das Konzept der „wirtschaftlichen Nachhaltigkeit“ auf die Erhaltung der natürlichen Ressourcen, die physische Inputs für die wirtschaftliche Produktion liefern, einschließlich erneuerbarer und endlicher Ressourcen. Das Konzept der „ökologischen Nachhaltigkeit“ betont stärker die Lebenserhaltungssysteme wie die Atmosphäre oder den Boden, die intakt bleiben müssen, damit wirtschaftliche Produktion und menschliches Leben an sich überhaupt stattfinden können. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die „soziale Nachhaltigkeit“ auf die menschlichen Auswirkungen von Wirtschaftssystemen und umfasst auch Bestrebungen, um Armut und Hunger zu bekämpfen sowie Ungleichheit entgegenzuwirken.

Bereits 1983 gründeten die Vereinten Nationen die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, um den Zusammenhang zwischen ökologischer Gesundheit, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit zu untersuchen. Die damals von der ehemaligen norwegischen Premierministerin Gro Harlem Brundtland geleitete Kommission veröffentlichte 1987 einen ersten Bericht, der zum Standard für die Definition nachhaltiger Entwicklung geworden ist. Er beschreibt nachhaltige Entwicklung oder die Blaupause für das Erreichen von Nachhaltigkeit als „Befriedigung der Bedürfnisse der Gegenwart, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ („meeting the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs”).

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Mitteldeutschland?

Im Zentrum von Mitteldeutschland, im Dreiländereck von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, liegt das sogenannte Mitteldeutsche Revier. Zuckeranbau und -verarbeitung, Braunkohletagebau sowie Energieproduktion und chemische Industrie haben hier über 200 Jahre die Landschaft und die Wirtschaft geprägt. Dabei sind die einzelnen Industriezweige in gemeinsamer Verflechtung entstanden. Die Zucht und der großangelegte Anbau von Zuckerrüben war eine Reaktion auf den zunehmenden Ausschluss Deutschlands aus dem Rohrzuckerhandel mit den Kolonialländern im 18. Jahrhundert. Für die Raffinade von Zucker sind wiederum große Mengen an Energie nötig, die kostengünstig durch die Verbrennung von Braunkohle bereitgestellt werden konnte. Der Aufbau von landwirtschaftlichen Monokulturen erforderte neue Düngemethoden, die chemische Industrie lieferte die dazu notwendigen Innovationen und Produkte. 

Auch wenn im Laufe der Zeit die einzelnen Industriezweige zunehmend unabhängiger voneinander wurden (mit der Braunkohle wurde beispielsweise im Kraftwerk Vockerode Strom für Berlin produziert, die chemische Industrie entwickelte sich unter anderem in Richtung Kraftstoffe), so prägt der agro-chemisch-industrielle Komplex nach wie vor die Region und ihr Selbstverständnis. Obwohl der gesamte Komplex inzwischen nur noch für einen geringeren Teil der Bevölkerung in der Region Arbeit bietet, so ist er tief mit den familiären Geschichten des Mitteldeutschen Reviers verwoben. Viele Menschen haben hier Eltern, Großeltern und andere Vorfahren, die seit Generationen „in der Kohle“, „in der Chemie“, oder in der Zuckerproduktion tätig waren. Noch heute lässt sich diese Verschränkung der Industriezweige am Beispiel der Zuckerproduktion nachvollziehen, zum Beispiel in Zeitz, wo nach wie vor mit Braunkohle aus der Region gearbeitet wird.

Was Nachhaltigkeit ist und sein kann, ist für Mitteldeutschland und dessen industrielles Zentrum noch nicht entschieden.

Der mitteldeutsche industrielle Komplex hat zwar nach der Wiedervereinigung 1990 eine sehr viel geringere Bedeutung für die Beschäftigung in der Region, er ist aber weitergeführt und nie in Frage gestellt worden. Das hat sich seit dem von der Bundesregierung beschlossenen „Kohleausstieg“ 2019 radikal verändert: Während die Landwirtschaft und die Chemie zukunftsfähig gemacht werden sollen, wird der Kohlebergbau beendet. Unabhängig davon, dass die Vorräte eines Tages ohnehin erschöpft gewesen wären, hat die politische Entscheidung sehr plötzlich ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass das ererbte wirtschaftliche System der Region, welches die unterschiedlichsten historischen Phasen und Staatsformen überdauert hat, nun tatsächlich sein Ende finden wird. Entsprechend geteilt, aber auch emotional ist die Reaktion auf den Kohleausstieg im Mitteldeutschen Revier. 

Natürlich identifizieren sich auch im industriellen Herzen Mitteldeutschlands viele Menschen mit den Zielen der Nachhaltigkeit im einleitend vorgestellten Sinne. Auch sie wollen keine Zukunft, in der kurzfristiger ökonomischer Wohlstand dauerhaft auf Kosten von Gesundheit und Umwelt erlangt wird. Gleichzeitig wird die nun offen gelegte Epochenschwelle als schmerzlich empfunden und mit Wehmut erkannt, dass das Ende einer Ära näher ist als gedacht (oder erhofft). Das regionale Narrativ der Industrieregion wird daher von allen Akteuren des nun mit Bundesmitteln geförderten Strukturwandels bewusst und fortwährend bedient: Man wolle nicht weg von der industriellen Tradition, so die nun häufig gehörte Rhetorik, sondern diese weiterentwickeln und modernisieren, damit die Industrie in unsere heutige Zeit passt – nachhaltig und sicher. 

Dabei wissen natürlich viele Menschen, dass eine nachhaltige Industrie nicht einfach so zu haben ist. Die nur kurze Blütezeit des Solar Valleys um 2010 in Bitterfeld-Wolfen ist für viele eine Mahnung: Nach anfänglichen Erfolgen und der Hoffnung, eine Industrie der Zukunft in der Region angesiedelt zu haben, kam die Ernüchterung, dass die Solarindustrie in Mitteldeutschland unter globalen marktwirtschaftlichen Bedingungen im Wettbewerb mit anderen Produktionsstätten, insbesondere in China, nicht dauerhaft bestehen kann. Auch der flächendeckende Ausbau von Windkraftanlagen bietet dem Mitteldeutschen Revier bisher keine Anknüpfungspunkte zur Ausbildung einer neuen regionalen Identität. Die Hoffnungen liegen nun insbesondere auf der Chemie in Leuna, Buna und Bitterfeld-Wolfen sowie dem neu entstehenden Großforschungszentrum Centre for the Transformation of Chemistry (CTC) am Standort Delitzsch (interessanterweise auf dem Gelände einer alten Zuckerfabrik), das durch den Bund und die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt mit bis zu 170 Millionen Euro jährlich gefördert werden wird. Grüner Wasserstoff und neue, unter anderem nachwachsende Rohstoffe werden als Hoffnungsträger für eine nachhaltige Industrie gehandelt. Auch die Gemeinden im Kohlekernrevier rund um die von der MIBRAG (Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH) betriebenen Großtagebaue Profen und Vereinigtes Schleenhain im Grenzgebiet von Sachsen und Sachsen-Anhalt beteiligen sich an der Transformation der Industrie in der Region, zum Beispiel durch den Ausbau erneuerbarer Energien oder der Mitwirkung am mitteldeutschen BioEconomy Hub.

Dass alle diese in die Zukunft gerichteten Investitionen ähnlich wie bei Solar Valley riskant sind, ist den Akteuren bewusst. Unsicherheit und Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts dieser Umbrüche sind stete Begleiter. Abgefedert werden sollen diese unter anderem durch Fördermittel der Europäischen Union aus dem Fonds für einen sozial gerechten Übergang, dem Just Transition Fund. Hier wird das Ziel einer ökologischen nachhaltigen Transition mit dem Ziel sozialer Nachhaltigkeit verknüpft – inklusive Arbeitsplatzsicherheit und der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und auf dem Land. 

Aus unserer Forschung heraus können wir bislang noch nicht abschätzen, ob die vielfältigen Fördermaßnahmen der mitteldeutschen Bundesländer, der deutschen Bundesregierung und der Europäischen Union den erhofften nachhaltigen Übergang – ökologisch wie sozial – sowohl stimulieren als auch für die Bevölkerung annehmbar gestalten können. Die Fokussierung auf einzelne Leuchtturmprojekte, die den Förderlogiken geschuldet ist, hat bisher in der Bevölkerung oft eher für Unverständnis gesorgt. Bekanntestes Beispiel ist die regional sehr kontrovers diskutierte Fassadensanierung des Weltkulturerbes Naumburger Dom aus Fördergeldern für den Strukturwandel. Was Nachhaltigkeit ist und sein kann, ist für Mitteldeutschland und dessen industrielles Zentrum damit noch nicht entschieden. Entgegen der üblichen Definitionen, etwa durch die UN, muss ein gemeinsames Verständnis von Nachhaltigkeitszielen für die Region in den nächsten Jahren noch ausgehandelt werden.

Postfossile Demokratien und nachhaltige Zukünfte

Die hier kurz angerissene Geschichte Mitteldeutschlands ist ein Beispiel dafür, wie sich ursprünglich Kohlenstoffenergie und der moderne Staat gemeinsam entwickelt haben und gemeinsam aufstiegen. Nicht nur in Mitteldeutschland, sondern in ganz Europa lagen Industrieregionen immer in der Nähe der wenigen großen Lagerstätten für Kohlereserven. Dabei organisierten sich Arbeiterbewegungen zum Beispiel um die Rechte von Bergarbeitern, die eine tragende Rolle bei den Aushandlungen der Machtverhältnisse zwischen dem Staat und seinen Bürgern spielten. Besonders die Bergbaugesellschaften und mit ihnen verbundenen Arbeiterkulturen haben traditionell einen signifikanten politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Daher bedeutet der Strukturwandel in Mitteldeutschland nicht zuletzt auch eine entscheidende Verschiebung von Macht- und Teilhabeverhältnissen. Diese Anzeichen können gedeutet werden als die Anfänge einer „postfossilen“ Demokratie – eine Form der demokratischen Beteiligung, die unter dem Eindruck des Ausstiegs aus den fossilen Energieträgen entsteht. Dabei stellt sich auch die Frage, wie sich Beteiligungsprozesse gestalten im Zeitalter nach den fossilen Ressourcen. 

Auch Eigentumsverhältnisse verschieben sich, besonders durch die Entwertung alter Energiequellen und Ressourcen sowie die gleichzeitige Erschließung neuer Ressourcen, die neue Normen und Regulierungsmechanismen benötigen und damit auch neue Verrechtlichungsprozesse mit sich bringen. In der heutigen globalisierten Welt werden diese nicht nur lokal, sondern auch national und international ausgehandelt, wobei besonders Fragen nach Ressourcen- und Energiegerechtigkeit immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Lange Zeit wurden technologischer Fortschritt und industrielle Moderne als linearer Prozess verstanden, wobei Brüche, Spannungen und Irrwege keine Beachtung fanden. Erst mit dem globalen Klimawandel wird deutlich, dass Ressourcenausbeutung und (De-)Industrialisierungsprozesse ihre Spuren hinterlassen haben – nun stellt sich die Frage, was nach dem Fortschritt kommt. Können die Hinterlassenschaften des fossilen Zeitalters repariert werden? Wie kann ein Wandel gelingen, der inklusiv ist, also alle gesellschaftlichen Akteure „mitnimmt“? Wie sind nachhaltiges Leben und Wirtschaften möglich? Und nicht zuletzt: Welche Wertvorstellungen und Ziele halten eine postfossile Gesellschaft zusammen?

Nicht nur Akteure aus Mitteldeutschland, sondern auch in vielen anderen Regionen der Welt sind Menschen gegenwärtig auf der Suche nach Antworten auf genau diese Fragen. In diesem Sinne reicht es auch in der Forschung nicht aus, sich auf quantitative Daten allein zu berufen. Ergänzend zu big data bedarf es auch so genannter thick data, also „dichter Daten“, die zum Beispiel durch qualitative sozialwissenschaftliche Forschung gewonnen werden. Nachhaltigkeit bedeutet hier auch die Ermöglichung und Unterstützung interdisziplinärer Projekte, die Methoden der quantitativen und qualitativen Forschung sowie der Geistes- und der Naturwissenschaften in einen Zusammenhang setzen können und für die anstehenden aktuellen und zukünftigen Aushandlungsprozesse für regionale Nachhaltigkeitsstrategien fruchtbar zu machen. Dabei geht es sowohl um die Entwicklung von sozialer und technologischer Innovation als auch darum, die Vielfalt von Erfahrungen, Narrativen und Beziehungen anzuerkennen, die tief in das soziale Geflecht heutiger Gesellschaften eingeschrieben sind. Nachhaltiger Strukturwandel beinhaltet Veränderungen in Politik, Ökonomie, Recht, Sozialem und Kulturellem und verlangt daher gesamtgesellschaftliche, kollektive Anstrengungen.

Die Autoren

Mareike Pampus ist promovierte Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Strukturwandel und Nachhaltigkeit (HALIS) sowie an der Humangeographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In ihrer Post-doc-Forschung beschäftigt sie sich mit verschiedenen Konzepten von „Natur“ in Renaturierungsprozessen von Bergbaufolgelandschaften. Der analytische Schwerpunkt liegt dabei auf Kultur-/Natur-Debatten, Mensch-Umwelt-Beziehungen und Landschaftsethnographie.

Jonathan Everts ist Professor für Humangeographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und einer der Direktoren des HALIS. Er befasst sich mit Theorien sozialer Praktiken, unter anderem in den Bereichen Konsumgeographie, Migrationsforschung und Mensch-Umwelt-Beziehungen. Everts interessiert sich insbesondere für die grundlegenden sozialen Veränderungen, die der Strukturwandel mit sich bringt, wie die Neu-Aushandlung von Wertvorstellungen sowie die Organisation von Lebensstilen und Praktiken.

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