Ein großes Holzgebäude, der Schusterhof im Zentrum des sorbischen Ortes Trebendorf/Trjebin.

Landschaft der Widersprüche

Was bedeutet die Entwicklung einer Braunkohleregion für eine ethnische Minderheit? Eine Reise zu sorbischer Kultur, Industriefolgen und Zukunftsgestaltung in der Lausitzer Tagebaufolgelandschaft.
 

 

von Jenny Hagemann

Es gibt eine Strecke auf der Bundestraße 97 zwischen dem brandenburgischen Cottbus und dem sächsischen Hoyerswerda, die einen besonders nachhaltigen Eindruck bei den Fahrenden hinterlässt. Erst säumen wahre Wände aus Kiefern die Straße. Derart gerade und astfrei wachsen die Bäume, dass allen noch so flüchtigen Beobachtenden klar wird: Dies hier ist eine geplante, gemachte Landschaft, kein Wald wie jeder andere. Wir passieren noch den Spreetaler See, der uns ungewöhnlich groß vorkommt in der ansonsten oft sandig-trockenen Gegend, dann senken wir unser Tempo von den üblichen 100 km/h erst auf 50 km/h, schließlich auf 30 km/h. Es besteht akute Rutschungsgefahr, denn der Boden ist nicht ausreichend verdichtet. Wir fragen uns: Was hat ihn derart aufgewühlt? Schließlich erreichen wir Hoyerswerda. Die Stadt begrüßt uns auf Deutsch und Obersorbisch: Witajće k nam – „Willkommen bei uns“ – steht auf einem Schild. In der Neustadt schließen sich noch Plattenbauten aus den 1960er Jahren an, die sich acht Stockwerke hoch in den Himmel erheben. Die Stadt selbst wirkt auf uns nicht, als bräuchte sie derartige Wohnkapazitäten.

Wir bewegen uns durch eine Landschaft voller Widersprüche. Alle Elemente eint, dass es sie ohne den Tagebau in dieser Form nicht gäbe. Sie bilden ein Mosaik verschiedenster Strategien, um mit den Folgen dieser Industrie umzugehen. Seit den frühen Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Braunkohle zum einflussreichsten Wirtschaftszweig der Region. Das sogenannte Lausitzer Revier, gelegen sowohl im Süden Brandenburgs als auch im Norden Sachsens, ist neben dem Rheinischen und dem Mitteldeutschen eins von drei Arealen, innerhalb derer der Rohstoff in Deutschland gefördert wurde und bis maximal 2038 noch wird.

Lausitz: Wiederaneignung einer Landschaft nach der Kohle

Da Erdschichten, welche die Braunkohle bedecken, vollständig abgetragen werden müssen, greift die Industrie tief in die Bodenbeschaffenheit und den Wasserhaushalt betroffener Areale ein. Die Behandlung dadurch aufgewühlter Böden, wie sie uns auf der B97 kurz vor Hoyerswerda ausgebremst hat, ist eine von vielen Maßnahmen der Rekultivierung, die sich etwa seit den 1920er Jahren mit der Wiederherstellung einer nutzbaren und – inzwischen von zunehmender Bedeutung – auch lebenswerten Landschaft befasst. In der Lausitz finden wir Repräsentationen aller entwickelten Maßnahmen und Nachnutzungsformen, entstanden über den längsten Zeitraum und innerhalb eines zusammenhängenden Areals – weltweit. Die Aufforstung mit Kiefern (und anderen Bäumen) und die Flutung der Restlöcher zu Seen, wie wir sie auf unserem Weg erlebt haben, sind nur wenige davon.

Die Wiederaneignung einer postindustriellen Landschaft umfasst jedoch deutlich mehr. Sie gestaltet die Region weit über den Tagebaurand hinaus. Für die Lausitz besonders prägend ist in diesem Zusammenhang das, was wir in Hoyerswerda durch die bilingualen Straßenschilder beispielhaft erleben: Das Revier liegt zu weiten Teilen im sorbischen/wendischen Siedlungsgebiet. Etwa seit dem 7. Jahrhundert siedelten slawische Gruppen dort, wo sich heute der östliche Teil der Bundesrepublik Deutschland befindet. Nur in der Lausitz blieben jedoch ihre Sprachen – das Ober- und Niedersorbische sowie zahlreiche lokale Dialekte –, ihre kulturellen Praktiken und ihr Selbstverständnis erhalten. Heute gehören die Lausitzer Sorb:innen/Wend:innen zu den vier anerkannten Minderheiten in Deutschland (neben den Sinti und Roma, der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe).

Tagebau in der DDR

In die Entwicklung des Tagebaus und die Auseinandersetzung mit seinen Folgen für Mensch und Umwelt waren Sorb:innen/Wend:innen unterschiedlich stark involviert. Gerade in den frühen Gruben waren sorbische/wendische Landarbeiter:innen tätig. Auch im frühen 20. Jahrhundert, als die Industrie deutlich an Dynamik gewann, arbeiteten neben den zuziehenden deutsch-, polnisch- und tschechisch-sprachigen „Kumpeln“ weiterhin auch Sorb:innen/Wend:innen in der Kohle. Die Plattenbauten in Hoyerswerda – sorbisch Wojerecy – veranschaulichen eindrücklich, wie sich die Bevölkerung der Stadt in der DDR-Zeit schließlich verzehnfachte: Aus der Kleinstadt mit rund 7.000 Einwohner:innen wurde eine sozialistische Planstadt mit 70.000 Menschen, die in den Plattenbauten moderne Wohnungen fanden. 

Ähnliches gilt für Spremberg/Grodk und Cottbus/Chóśebuz im Norden der Region. Erst der massive Rückgang der Bergbauaktivitäten nach der Wiedervereinigung führte zu einem erneuten Schrumpfen dieser Städte. Daher erscheinen uns die zahlreichen Wohntürme der Stadt heute auf den ersten Blick etwas unerklärlich oder deplatziert.

„Das Wissen um die Radikalität des Tagebaus [...] und um die Verflechtungen der Folgelandschaft mit der regionalen, oftmals sorbisch-geprägten Kultur bildet eine unverzichtbare Basis für die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft der Region.“

Vor allem während der DDR-Zeit war der neue Wohnraum jedoch nicht nur für die Arbeiterschaft vorgesehen, sondern auch für Jene, die ihre Heimat an den Tagebau verloren: Zwischen 1924 und 2024 wurden in der Lausitz insgesamt 137 Orte und Ortsteile für die Kohle devastiert; rund 29.000 Menschen suchten nach einem neuen Heim. In 96 dieser Orte wurde im 19. Jahrhundert noch überwiegend Sorbisch gesprochen. Oftmals zeugten regionale Flur- und Straßennamen, wie das oft anzutreffende góra für „Berg“, von der historisch gewachsenen Verbindung zwischen Land und Mensch. Viele sorbisch geprägte Bräuche, wie das Osterwasserholen oder das Stollenreiten, sind untrennbar mit der Landschaft verflochten. Von dieser Verbindung erzählt nicht zuletzt auch der reiche Sagen- und Märchenschatz der Region.

Neue Regeln für die Umsiedlungspraxis

Bis zur deutschen Wiedervereinigung spielten Auswirkungen auf die Bevölkerung in der Braunkohlenplanung entweder keine oder nur eine untergeordnete Rolle – ein Umstand, den auch die Plattenbauten in Hoyerswerda/Wojerecy verdeutlichen. Jahrhundertelang gewachsene soziokulturelle Nachbarschaften und Praktiken der Dorfkultur konnten in den neuen Wohnungen kaum aufrecht erhalten werden. Die heutige Landschaft erzählt uns an vielen weiteren Orten eindringlich davon, wie sich die Umsiedlungspraxis je nach Rechtsrahmen veränderte, wie Betroffene um ihre Rechte kämpften – und vor allem, inwiefern Aspekte des Minderheiten- und Naturschutzes sukzessive darin Einzug hielten. 

Ein wichtiges Beispiel hierfür ist Horno/Rogow. Bis 2004 lag der Ort nordwestlich der Stadt Forst/Baršć. Seit 1977 erstmals bekannt gegeben wurde, dass ihr Dorf dem Tagebau Jänschwalde weichen soll, protestierten die Hornoer:innen langanhaltend, vehement und auf verschiedensten Ebenen für dessen Erhalt. Seine sorbische Prägung war dabei ein wichtiges Argument. Ende des 19. Jahrhunderts galt Horno/Rogow noch als eigenständige Trachten- und Dialektregion. Besonders gern erzählten Hornoer:innen sich von den Ludki – sorbischen Sagenfiguren in Gestalt „kleiner Leute“. Bräuche wie das Zampern, Zapust, Osterfeuer, Maibaum-Aufstellen und die Kirmes gestalteten das Jahr. 

Der Widerstand konnte den Ort nicht retten, errang jedoch entscheidende und durchaus landschaftsprägende Änderungen im Umsiedlungsprozess: Seit dem Hornoer Umsiedlungsvertrag ist gesetzlich festgelegt, dass Orte, die im sorbischen Siedlungsgebiet liegen, auch innerhalb dessen umsiedeln. Sie verbleiben damit in einem Kultur- und Rechtsraum, der ihnen ein Mindestmaß an Bedingungen für die Pflege und Weiterentwicklung der sorbischen Sprache und Kultur garantiert – zum Beispiel sorbischsprachige Schulen in der Nähe.

Ein großes Holzgebäude, der Schusterhof im Zentrum des sorbischen Ortes Trebendorf/Trjebin.

Der translozierte „Schusterhof“ bildet das Zentrum der neuen Ortsmitte in Trebendorf/Trjebin (Landkreis Görlitz) für das 2010 devastierte Hinterberg/Zagora.

 

(Foto: Maximilian Beyers)

Als neuer Ortsteil von Forst/Baršć näherte sich die Struktur von Neu-Horno dem alten Dorf an: Nachbarschaften blieben erhalten, Straßennamen und ganze Gebäude wie die Museumsscheune wurden „mitgenommen“. Ziel war, eine Fortentwicklung des dörflichen Miteinanders zu ermöglichen. 

Ähnliche Strategien wurden in darauffolgenden Umsiedlungen wie beispielsweise im Fall der Ortschaft Hinterberg/Zagora 2010 verfolgt. Auch sie sind heute im Ortsbild des Zielortes Trebendorf/Trjebin sichtbar. Der damalige Bergbaubetreiber Vattenfall finanzierte als Teil des Hornoer Umsiedlungsvertrags zudem das „Archiv verschwundener Orte“ in Forst/Baršć, ein Dokumentationszentrum nicht nur für den Ort selbst, sondern alle 137 devastierten Dörfer. 

Nichtsdestotrotz bedeutet eine Umsiedlung immer auch Heimatverlust für die Betroffenen. Ob die für jeden Fall individuell erarbeiteten Maßnahmen zur Stärkung der Ortsgemeinschaft wirksam sind, ist bislang nicht untersucht worden. Einzelstudien zu Orten in den verschiedenen Revieren zeigen den Forschungsbedarf zu den noch immer bestehenden gesundheitlichen, sozialen und kulturellen Folgen des Tagebaus auf.

Neue Konzepte: zwischen „grüner“ Wirtschaftlichkeit und sozialer Teilhabe

Mit dem Ende der Braunkohlenverstromung bis spätestens 2038 befindet sich die Region der Lausitz in einer entscheidenden Transformation, die sich auch noch lange in der Zukunft in ihrer Landschaft widerspiegeln wird. Längst avancieren Folgeflächen zu Spekulationsobjekten, auf denen PV- und Windkraftanlagen installiert werden, um den steigenden Bedarf an „grüner“ Energie zu sichern. Dabei stellt sich immer die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe, sowohl monetär als auch ideell: Wem gehören die Flächen, wer profitiert? Und: Welche Nutzungskonzepte ermöglichen nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch eine Verbindung zwischen Mensch und Landschaft?

Das Wissen um die Radikalität des Tagebaus, um die vielfältigen Lernprozesse im Umgang mit seinen Folgen, um die technischen Innovationen und um die Verflechtungen der Folgelandschaft mit der regionalen, oftmals sorbisch-geprägten Kultur bildet eine unverzichtbare Basis für die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft der Region. In welcher Form die Tagebau-folgelandschaft selbst und das mit ihr verbundene Wissen geschützt werden können – zum Beispiel als UNESCO-Welterbe, wie eine wissenschaftliche Initiative mehrerer Lausitzer Partner zwischen 2020 und 2025 geprüft hat – gilt es, gemeinsam mit der Bevölkerung vor Ort zu ergründen.

Die Autorin

Dr. Jenny Hagemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Serbski institut Chóśebuz/Sorbischen Institut Cottbus. Sie promovierte zuvor am Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität Hannover. 

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Regionalentwicklung und Industrieplanung in Minderheitenkontexten sowie Inwertsetzungsprozesse minorisierter Kulturen.

Zum Weiterlesen

KULTUR[tagebau]LANDSCHAFT. Strukturen der Tagebaufolge lesen, verstehen, gestalten, entwickeln, herausgegeben von Heidi Pinkepank und Markus Otto. Berlin: L+H Verlag, 2022.

Jenny Hagemann: Vererbte Regionen. Aneignungen und Nutzungen von regionalem Erbe im Wendland und in der Lausitz. Bielefeld: transcript Verlag, 2022 (Dissertation, Open Access).

Frank Förster: Verschwundene Dörfer im Lausitzer Braunkohlerevier. Bearbeitet von Robert Lorenz. Bautzen: Domowina Verlag, 2014.
 

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